Zu Schätzungen im Steuerstrafverfahren hatte ich mich ja bereits positioniert (siehe "Schätzungen im Steuerstrafverfahren - An der Grenze des Rechtsstaats"). Demnach kann man sich fragen, warum noch ein zweiter Beitrag im -etwas informelleren- Blog ?
Die Antwort ist ganz einfach. Als ich den Beschluss des ersten Strafsenats vom 6. April 2016 (1 StR 523/15, zitiert nach www.bundesgerichtshof.de) las, empfand ich ihn als eine Art Leitfaden für Gerichte bei der Schätzung im Steuerstrafverfahren. Und einen solchen sollte man definitiv auch als Verteidiger kennen.
Zunächst gibt es einige allgemeine Ausführungen zu den Voraussetzungen einer Schätzung im Steuerstrafverfahren zu lesen. Hierbei führt der erste Senat aus, dass
"die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29. Januar 2014 – 1 StR 561/13, wistra 2014, 276, vom 4. Februar 1992 – 5 StR 655/91, wistra 1992, 147 und vom 10. September 1985 – 4 StR 487/85, wistra 1986, 65; Urteil vom 26. Oktober 1998 – 5 StR 746/97, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 1, 2), wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, die tatsächlichen Verhältnisse, die für die Bemessung der Steuer maßgebend sind, aber ungewiss sind."
So weit, so gut aber wenig aufregend. Interessanter, und wie ich finde auch pädagogisch einwandfrei aufgearbeitet, nimmt der erste Senat zu den Grenzen der Schätzung zu den Erfordernissen an die Begründung dieser, Stellung.
Zunächst einmal weist der Senat zutreffend darauf hin, dass auch wenn die Ermittlung und Darlegung der Besteuerungsgrundlagen wie auch die Schätzung dem Tatrichter obliegen, nachvollziehbar darzustellen ist, wie das Gericht zu seinen Schätzungsergebnissen kommt (BGH, aaO, Rn. 19).
Im Anschluss werden Grundsätze aufgezählt, die für eine revisionsfeste Feststellung geschätzter Besteuerungsgrundlagen notwendig sein sollen. So soll eine Schätzungen die folgenden Anforderungen erfüllen:
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"Die Schätzung ist so vorzunehmen, dass sie im Ergebnis einem ordnungsgemäß durchgeführten Bestandsvergleich bzw. einer ordnungsgemäßen Einnahmeüber-schussrechnung möglichst nahekommt (BFH, Urteil vom 19. Januar 1993 – VIII R 128/84, BFHE 170, 511, BStBl II 1993, 594, Rn. 23)." (BGH, aaO, Rn. 20)
- Eine Schätzung muss schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein.
- Alle Tatsachen, die nach der Überzeugung des Tatrichters feststehen müssen bei der Schätzung berücksichtigt werden.
- Unüberwindbare Zweifel dürfen sich -anders als im Besteuerungsverfahren- wegen des Grundsatzes "in dubio pro reo" nur zugunsten des Angeklagten auswirken.
- Gegebenenfalls muss der Tatrichter seine Schätzung auf einen Mindestbetrag reduzieren.
Einen gerichtsfreundlichen Ansatz bestätigt der Bundesgerichtshof dennoch:
"Erweist sich eine konkrete Ermittlung oder Schätzung der tatsächlichen Umsätze von vorneherein oder nach entsprechenden (darzulegenden) Berechnungsversuchen als nicht möglich und fehlerbehaftet, kann pauschal geschätzt werden, auch unter Heranziehung der Richtwerte für Rohgewinnaufschlagsätze aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Januar 2014 – 1 StR 561/13, wistra 2014, 276; Urteil vom 28. Juli 2010 – 1 StR 643/09, wistra 2011, 28; BGH, Beschluss vom 24. Mai 2007 – 5 StR 58/07, BGHR AO § 370 Abs. 1 Steuerschätzung 3) oder z.B. unter Heranziehung von Erfahrungssätzen vergleichbarer Betriebe (Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl., § 370 Rn. 83)." (BGH, aaO, Rn. 32)
Das bedeutet, fehlen tatsächliche Anhaltspunkte für eine Schätzung, weil z.B. keinerlei (belastbare) Unterlagen vorliegen, kann auch anhand von z.B. Rohgewinnaufschlagsätzen geschätzt werden. Ein Rohgewinnaufschlagssatz oder Kalkulationszuschlag bezeichnet das Verhältnis zwischen Rohgewinn und Wareneinsatz. Durchschnittliche Rohgewinnaufschlagssätze hat das Bundesministerium der Finanzen in einer Sammlung zusammengetragen. Anhand dieser Werte kann z.B. aus dem Warenumschlag auf den Umsatz (für die Umsatzsteuer) und mittelbar auch auf den steuerlichen Gewinn (für Ertragssteuern) geschlossen werden.
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