Denkt man an einen Strafprozess, denken die meisten wohl -auch- an den Angeklagten neben seinem Verteidiger -wahlweise auch mit Kaputze oder Aktendeckel vor bzw. im Gesicht.
Auch die Strafprozessordnung sieht in den allermeisten Fällen eine Verpflichtung des Angeklagten zur Teilnahme an der mündlichen Hauptverhandlung vor (§ 231 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 230 Abs. 1
StPO). Ohne den Angeklagten kann eine Hauptverhandlung nämlich im Regelfall nicht stattfinden. Macht der Angeklagte Anstalten sich aus der Verhandlung zu entfernen, kann der Vorsitzende auch
Maßnahmen treffen um ihn am sich-entfernen zu hindern. Zu diesen Maßnahmen gehören z.B. die Bewachung durch einen Justizbeamten oder notfalls auch die Fesselung (§ 231 Abs. 1 Satz 2 STPO, so z.B.
OLG Hamm, Beschluss vom 09. Januar 2014 – III-5 RVs 134/13, 5 RVs 134/13 –, zitiert nach juris). Notwendig sind aber im Fall der Fesselung, dass konkrete Anhaltspunkte
dafür vorliegen, dass sich der Angeklagte der Hauptverhandlung entzieht.
Bleibt der Angeklagte der Hauptverhandlung fern, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl gegen den Angeklagten zu erlassen (§ 230 Abs. 2 StPO). Voraussetzung für ein derartiges Vorgehen ist jedoch immer, dass der Angeklagte für sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern ob ein hinreichender Entschuldigungsgrund besteht (Meyer-Goßner, StPO, 56. Auflage, § 230, Rn. 16 mit weiteren Nachweisen; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Auflage, A, Rn. 365).
Klassische Entschuldigungsgründe sind z.B. Krankheit (soweit sie die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar macht, NICHT: gebrochener Arm o.Ä., da bei derartigen Verletzungen
regelmäßig noch an einer Hauptverhandlung teilgenommen werden kann. Etwas anderes kann aber gelten, wenn der Angeklagte nicht reisefähig ist) oder eine Kraftfahrzeugpanne (siehe nur: Burhoff,
aaO, Rn. 367 mit weiteren Nachweisen). Die Angst in Haft genommen zu werden oder Parkschwierigkeiten am Gericht sind keine genügenden Entschuldigungsgründe (für die Berufungsverwerfung bei
Abwesenheit z.B. OLG Köln, Beschluss vom 11. Dezember 1998 – Ss 528/98 –, zitiert nach juris).
In der Folge kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass der Satz "Erscheinen Sie, sonst weinen Sie" durchaus seine Berechtigung hat. Allerdings gibt es Ausnahmen von der Anwesenheitspflicht der Angeklagten.
Dabei sind die Fälle in denen die Anwesenheitspflicht des Angeklagten nicht besteht von den Fällen zu unterscheiden, in denen die zeitweise Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist.
Beispiele für Fälle in denen eine Hauptverhandlung auch ohne den Angeklagten stattfinden kann:
- § 232 StPO - Bleibt der ordnungsgemäß geladene Angeklagte der Hauptverhandlung fern, kann ohne ihn verhandelt werden, wenn er in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde. Dies gilt jedoch nur wenn eine geringe Strafe (bis zu 180 Tagessätzen und ggf. Nebenfolgen wie z.B. Fahrverbot) ausgerurteilt werden.
- § 233 StPO - Diese Regelung sieht die Entbindung des Angeklagten von der Verpflichtung des Erscheinens zur mündlichen Hautpverhandlung vor. Dies muss der Angeklagte oder sein Verteidiger bei Gericht beantragen. Allerdings gelten auch hier Beschränkungen hinsichtlich des Strafmaßes (bis zu 6 Monaten Freiheitsstrafe und ggf. Nebenfolgen, auch die Entziehung der Fahrerlaubnis). Der Angeklagte muss in diesen Fällen gemäß § 233 Abs. 2 StPO aber trotzdem zur Anklage vernommen werden (eine Aussage ist jedoch nicht notwendig - Der Angeklagte hat selbstverständlich weiterhin sein Schweigerecht). Diese Möglichkeit bietet sich an, wenn der Angeklagte z.B. sehr weit vom Gerichtsort entfernt wohnt.
- § 329 StPO - Den Fall des Nichterscheinens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung hat der Gesetzgeber nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte neu gefasst. Dieser hatte entschieden, dass die zwingende Verwerfung der Berufung bei Abwesenheit des Angeklagten gegen die Menschenrechte verstößt (EGMR Nr. 30804/2007 - Urteil der 5. Kammer vom 8. November 2012 (Neziraj v. Deutschland)). Dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber nunmehr Rechnung getragen und den § 329 StPO geändert. Nunmehr ist es nicht ohne Weiteres möglich die Berufung zu verwerfen, wenn der Angeklagte nicht erscheint. Es sind jedoch Vorkehrungen zu treffen, damit das Gericht die Berufung nicht trotz des Gesetzesänderung verwirft. Zunächst muss ein Verteidiger anwesend sein. Dieser muss seine Verteidigungsbereitschaft erklären und eine schriftliche Vollmacht vorlegen. Diese Vollmacht muss den Verteidiger ausdrücklich zur Vertretung des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung ermächtigen (KG Berlin, Beschluss vom 16. September 2015 – (2) 121 Ss 141/15 (51/15) –, zitiert nach juris). Eine allgemeine Vollmacht reicht dementsprechend nicht aus. Zu beachten ist, dass diese Voraussetzungen nur die Verwerfung verhindern. Hat der Angeklagte die Berufung eingelegt und hält das Gericht das Erscheinen für notwendig, ist nach § 329 Abs. 4 StPO die Hauptverhandlung zu unterbrechen und der Angeklagte unter Anordnung des persönlichen Erscheinens zu laden.
- § 350 Abs. 2 StPO - In der Revisionshauptverhandlung kann sich der Angeklagte durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen. Eine Anwesenheitspflicht besteht nicht. Befindet sich der Angeklagte nicht auf freiem Fuß, ist ihm für die Revisionshauptverhandlung ein Pflichtverteidiger zu bestellen, der dann an der Verhandlung teilnimmt.
- § 411 Abs. 2 StPO - Wird nach einem Einspruch gegen einen Strafbefehl mündlich verhandelt, kann sich der Angeklagte ebenfalls von einem Verteidiger mit schriftlicher Vollmacht vertreten lassen (Dies wäre z.B. auch im Verfahren gegen Frau Lohfink möglich gewesen)
Daneben ist eine Vertretung auch im Privatklageverfahren möglich (§ 387 Abs. 1 StPO). Neben diesen Möglichkeit kommen auch Situationen vor, in denen der Angeklagte zeitweise nicht zur Anwesenheit verpflichtet ist oder sogar von der zeitweisen Teilnahme an der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden kann. Hierzu zählen beispielsweise:
- § 231 Abs. 2 StPO - Die Hauptverhandlung kann auch ohne dass der Angeklagte weiterhin anwesend ist fortgeführt werden, wenn eine Vernehmung zur Anklage bereits stattgefunden hat und das Gericht die Anwesenheit des Angeklagten nicht mehr für erforderlich hält. Diese Vorschrift ist eng auszulegen (so: Meyer-Goßner, aaO, § 231, Rn. 6 mit weiteren Nachweisen). So kann die Hauptverhandlung nicht fortgesetzt werden, wenn rechtliche Hinweise nach § 265 StPO zu erteilen wären.
- § 231b StPO - Benimmt der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung ordnungswidrig und wird er deshlab entfernt oder inhaftiert, kann in seiner Anwesenheit weiterverhandelt werden. Dies allerdings nur wenn das Gericht die Anwesenheit des Angeklagten nicht für unerlässlich hält und nur solange zu befürchten ist, dass die Anwesenheit den Ablauf der Hauptverhandlung schwerwiegend beeinträchtigen würde. Kehrt der Angeklagte zurück in die Hautpverhandlung ist er über den wesentlichen Inhalt der Hauptverhandlung bis zu seiner Wiederkehr zu unterrichten.
- § 247 StPO - Der Angeklagte kann auf Anordnung des Gerichts während der Vernehmung eines Zeugen entfernt werden, wenn zu befürchten ist, dass der Mitangeklagte oder Zeuge in Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen wird. Bei Zeugen unter 18 Jahren reicht auch ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen. Der Angeklagte kann auch zu seinem eigenen Schutz ausgeschlossen werden. Dies ist z.B. der Fall wenn der Zustand und ggf. Behandlungsperspektiven erörtert werden sollen und die Anwesenheit hierbei die Gesundheit des Angeklagten gefährden könnte. Ist die Vernehmung beendet, nimmt der Angeklagte wieder an der Verhandlung teil. Er ist dann davon zu unterrichten, was der Zeuge ausgesagt hat und was sonst Gegenstand der Verhandlung war.
Ebenso ist die zeitweise Abwesenheit unter den Voraussetzungen des § 231a StPO, also bei herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit unschädlich (z.B. weil sich der Angeklagte vor der Hauptverhandlung betrunken hat).
Im Ergebnis sollte ersichtlich sein, dass die Devise "Erscheinen Sie, sonst weinen Sie" rechtlich eine Vielzahl von Ausnahmen kennt. Allerdings sollte die Anwesenheit nicht nur als Pflicht, sondern vielmehr als Privileg wahrgenommen werden. Als anwesender Angeklagten hat man die Möglichkeit das Vorgehen des Gerichts wahrzunehmen und -in Grenzen- auch zu kontrollieren. Ebenso ist es möglich das Verfahren mitzugestalten. Dies gilt umso mehr, wenn man sich zusätzlich der Hilfe eines Verteidigers bedient.
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