Der Öffentlichkeitsgrundsatz - Das "Opfer" als Türsteher?

Landgericht Hamburg
Landgericht Hamburg

Anders als unter Umständen vermutet, findet sich zum Öffentlichkeitsgrundsatz keine Regelung in der Strafprozessordnung. Ausschlaggebend ist das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Dort ist im § 169 Satz 1 geregelt, dass "die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse" öffentlich ist. Gleichzeitig wird dort auch geregelt, dass -anders als in anderen Ländern- "Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung" unzulässig sind. Es stellt sich nunmehr die Frage wie Öffentlichkeit im Sinne dieser Vorschrift zu begreifen ist. Der Bundesgerichtshof (Bezug hierauf nimmt Spiegel in: Deutsches Autorecht 1981, 195) und das Bayrische Oberste Landesgericht (in: Goltdammers Archiv für Strafrecht 1970, S. 242; BayObLG (2. Strafsenat), Beschluß vom 30. 1. 1980 - RReg. 2 St 452/79, beck-online) haben sie dahingehend definiert, dass jedermann aus dem Publikum sich jederzeit und ohne Rücksicht auf Herkunft, Einstellung und Ähnliches  ohne Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Verhandlung verschaffen kann und das ihm Zutritt eröffnet wird. Der Umfang des Zutritts richtet sich -wie uns bereits der "NSU-Prozess" gezeigt hat- nach den tatsächlichen Gegebenheiten (so auch: BVerfG, Beschluss v. 10. Oktober 2001, 2 BvR 1620/01, zitiert nach der Online-Datenbank des Bundeverfassungsgerichts, dort Rn. 6). Es stellt sich also die Frage wieviel Öffentlichkeit sein muss. Auch hierzu hat sich die Rechtsprechung positioniert. Es ist erforderlich, dass im Sitzungssaal Zuhörer in einer Anzahl Platz finden, dass sie als Repräsentanten einer nicht nach besonderen Kriterien ausgewählten Öffentlichkeit gelten (BGH, Urteil vom 10. November 1953 – 5 StR 445/53 –, BGHSt 5, 75-84, 83). Die Zuhörer müssen in der Reihenfolge ihres Eintreffens eingelassen werden. Begrenzt wird die Öffentlichkeit durch die tatsächlichen Gegebenheiten. Ein Ausweichen auf einen Ballsaal oder gar in einer Stadthalle nur aufgrund der zu erwartenden Zuschauermenge ist unzulässig (so auch: Roxin in: Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, S. 400). Dies lässt sich auch recht einfach begründen. Ebenso wie die Aufzeichnung der Hauptverhandlung auf Film oder Tonband würde eine solche grenzenlose Ausweitung den Angeklagten "zum Schauobjekt degradieren, was seiner Menschenwürde" zu wider laufen würde (so auch: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage, § 169 GVG, Rn. 5). 

 

Hintergrund dieses Öffentlichkeitsgrundsatzes war zunächst die deutsche Geschichte. Im Angesicht der Justizwillkür im Nationalsozialismus wollte der frühe Gesetzgeber vermeiden, dass Strafprozesse "im Geheimen" und ohne jegliche Kontrolle durch die Öffentlichkeit stattfinden. Heute ist es allgemeiner Konsens, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit dient und seine ursprüngliche Bedeutung weitestgehend verloren hat (statt Vieler: Schmitt, aaO, Rn. 1).

Ausnahmen

Kein Grundsatz -auch nicht der Öffentlichkeitsgrundsatz- bleibt ohne Ausnahmen. Vorliegend ist es offensichtlich, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit da zurückstehen muss wo Persönlichkeitsrechte und die Menschenwürde der Beteiligten betroffen sind. Auch der Gesetzgeber hat die Problematik erkannt und ihr in den Regelungen der §§ 171a bis 175 GVG Rechnung getragen. Nach diesen Regelungen kann die Öffentlichkeit bei Hauptverhandlungen ganz oder teilweise ausgeschlossen werden. Darüber hinaus gilt in Jugendstrafsachen nach § 48 Abs. 1, Abs. 2 JGG ein Ausschluss der Öffentlichkeit bei Jugendgerichten. Bei Heranwachsenden ist dies anders (§ 109 Abs. 1 Satz 4 JGG).

 

Der § 171a GVG räumt die Möglichkeit ein, die Öffentlichkeit dann auszuschließen wenn das Verfahren auch die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt zum Gegenstand hat. Dies leuchtet ein. Ein Angeklagter oder Beschuldigter, der nicht oder nur vermindert schuldfähig ist, also das Unrecht seiner Tat aufgrund einer Sucht- oder anderen Erkrankung nicht erkennen kann, sollte nicht öffentlich vorgeführt werden. Das Urteil wird in diesen Fällen jedoch nach § 173 Abs. 1 GVG öffentlich verkündet.

Der Ausschluss der Öffentlichkeit nach dem Willen des "Opfers"

Der mit dem Opferrechts-Stärkungsgesetz vom 14.03.2013 neu eingeführte und mit dem Fünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 04.11.2016 (BGBl. I S. 2640), in Kraft getreten am 10.11.2016 nochmals erweiterte  § 171b GVG schützt das Persönlichkeitsrecht aller am Strafprozess Beteiligten wobei schon in der Formulierung des § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG deutlich wird, dass sich die Norm insbesondere an den Verletzten richtet. Kinder und Jugendliche werden besonders geschützt. Der Absatz 1 dieser Regelung enthält die Formulierung "kann", was verdeutlicht, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit im (relativ) freien Ermessen des Gerichts liegt. Anders verhält es sich mit Absatz 2 der eine sogenannte "Soll-Vorschrift" enthält. Danach soll der Ausschluss der Öffentlichkeit die Regel sein, wenn in Strafverfahren wegen Sexualstraftaten, Tötungsdelikten oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit (z.B. Freiheitsberaubung) eine Person unter 18 Jahren als Zeuge vernommen wird. Zwingend ist ein solcher Ausschluss der Öffentlichkeit dann, wenn die Person deren Lebensbereich betroffen ist (im Regelfall die verletzte Person) dies beantragt. Umgekehrt darf die Öffentlichkeit keinesfalls ausgeschlossen werden, wenn der Verletzte dies verlangt. Nach § 171b GVG gibt es gegen Entscheidungen nach dieser Vorschrift kein Rechtsbehelf.

 

Auch der Angeklagte kann nach § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG, der jedem Prozessbeteiligten dieses Recht einräumt, den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen (§ 171b Abs. 3 GVG). Voraussetzung ist einerseits, dass Umstände des persönlichen Lebensbereichs erörtert werden und andererseits dass dies zu einer Verletzung schutzwürdiger Interessen des jeweils Betroffenen führen würde. "Dazu gehören insbes. das Familien-, Beziehungs- u. Sexualleben, der Gesundheitszustand sowie weltanschauliche, religiöse u. politische Einstellungen. Im Familienbereich handelt es sich um Umstände, die lediglich die wechselseitigen persönlichen Beziehungen u. Verhältnisse innerhalb der Familie betreffen, darum unbeteiligten Dritten nicht ohne weiteres zugänglich sind u. Schutz vor dem Einblick Außenstehender verdienen (BGH NStZ 1982, 169; enger SK-StPO/Velten Rn. 6 f.)" (BeckOK StPO/Walther, GVG, § 171b, Rn. 1-2, beck-online). Wann schutzwürdige Interessen verletzt werden beurteilt nicht der Betroffene sondern ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen (Walther, aaO, Rn. 3). Die Wertvorstellungen des jeweiligen Betroffenen spielen dabei jedoch zu Recht eine Rolle.

 

Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Ausschluss auf Antrag des Betroffenen zwingend zu beschließen. 

 

Dies ist insofern problematisch, dass bei einem Antrag eines Zeugen dem Angeklagten kein Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Auch eine Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung über den Ausschluss in der Revision dürfte damit ausgeschlossen sein (so zumindest: BeckOK StPO/Walther, 27. Ed. 1.1.2017, GVG § 171b Rn. 7 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes). Ein unhaltbarer Zustand, da damit dem willkürlichen Ausschluss der Öffentlichkeit nach Opferwunsch keine Kontrollmöglichkeit gegenübersteht (von der Möglichkeit der Rüge eines Verstoße gegen § 174 GVG abgesehen). Ohne übertreiben zu wollen, wird damit eine wesentliche Prozessmaxime in das Gutdünken eines Zeugen gestellt.

 

In § 172 GVG sind die "klassischen" Ausschlussgründe aufgelistet. Danach kann das Gericht die Öffentlichkeit beispielsweise bei Gefährdung der Staatssicherheit oder der Sittlichkeit ausschließen. Daneben soll u.a. der Geheimnisverrat verhindert werden. Deshalb kann auch wenn Geschäfts-, Betriebs- oder Erfindungsgeheimnisse zur Sprache kommen und dabei überwiegend schutzwürdige Interessen verletzt werden könnten, die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.

 

Der Beschluss über die Ausschließung der Öffentlichkeit ist auf Antrag eines Beteiligten in nicht öffentlicher Sitzung zu verhandeln und öffentlich zu verkünden. Die Rechtsgrundlage der Ausschließung ist anzugeben (§ 174 Abs. 1 Satz 3 GVG).

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz auch zur Kontrolle der Gerichte noch immer seine Berechtigung hat. Ob die Einführung des § 171b StPO in dieser Form notwendig war, darf bezweifelt werden. Sicher ist der Persönlichkeitsrechtsschutz ein gewichtiger Grund für eine Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Allerdings wäre es meines Erachtens nicht notwendig gewesen, dem Verletzten quasi einen Teil der Prozessleitung zu übertragen. Man halte sich vor Augen, dass der Ausschluss ausschließlich und unanfechtbar vom Willen des betroffenen Zeugen abhängt. Dies darf als überzogen bezeichnet werden.

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Kommentare: 1
  • #1

    Helmut Rosendorf (Dienstag, 30 Oktober 2018 15:24)

    Die Tatsache, daß der Begriff des "Opfers" mit Anführungsstrichen versehen ist, läßt eine emotionale Färbung insbesondere der zusammenfassenden Feststellung vermuten.