Wie so oft, ist Ausgangspunkt für den heutigen Beitrag eine aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen.
Mit Urteil vom 7. Februar 2017 hat der fünfte Strafsenat unter anderem entschieden, dass es für eine Strafbarkeit wegen schwerer Körperverletzung im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB wegen einer dauerhaft fehlenden Brauchbarkeit eines Gliedes nicht darauf ankommt, ob das Opfer ihm zumutbare Heilbehandlungen nicht wahrgenommen hat und die fehlende Brauchbarkeit oder deren Dauerhaftigkeit nur auf dieses Verhalten zurückgeführt werden kann (BGH 5 StR 483/16, zitiert nach hrr-strafrecht.de).
Zur Begründung führt der Senat unter anderem aus:
"Dass der Verletzte eine medizinische Behandlung zur Beseitigung oder Abmilderung der eingetretenen Beeinträchtigungen unterlässt, kann nicht dazu führen, diese vom Täter herbeigeführte gravierende Folge als Gradmesser seiner Strafwürdigkeit auszugrenzen (vgl. BGH, Urteil vom 2. März 1962 - 4 StR 536/61, aaO). Das im Anwendungsbereich des § 226 StGB ohnehin stets außerordentlich schwer getroffene Opfer wird - hier nicht gegebene extrem gelagerte Konstellationen etwa der Böswilligkeit ausgenommen - in aller Regel aus Tätersicht nicht zu hinterfragende Gründe haben, weitere Behandlungen nicht auf sich zu nehmen, selbst wenn diese nach ärztlicher Beurteilung sinnvoll wären. Zu nennen ist insbesondere die Furcht vor den mit jeder (Folge-)Operation verbundenen Risiken und Leiden oder auch nur vor schmerzhaften Nachbehandlungen. Es würde jeglichem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, über den Gedanken der Zurechnung eine Art Obliegenheit des Opfers zu konstruieren, sich ungeachtet dessen aus übergeordneter Sicht „zumutbaren“ (Folge-)Operationen und anderen beschwerlichen Heilmaßnahmen zu unterziehen, um dem Täter eine höhere Strafe zu ersparen (vgl. auch BGH, aaO; RGSt 27, 80). Darüber hinaus würde dem irreversibel geschädigten Opfer gegebenenfalls durch Gerichtsurteil bescheinigt, es sei gar nicht auf Dauer beeinträchtigt (vgl. Stree/Sternberg-Lieben, aaO, § 226 Rn. 1a)." (BGH, aaO, Rn. 17)
Damit stellt sich der Senat auch gegen gewichtige Stimmen in der Literatur, die eine Zurechnung der tatbestandlichen Erfolges (unter Zugrundelegung verschiedener Kriterien) dann ablehnen, wenn dieser auf eigenverantwortlichem Opferverhalten beruht (MüKoStGB/Hardtung, 2. Aufl. 2012, StGB § 226 Rn. 42). Dem fünften Strafsenat sind hierbei insbesondere die angeführte Kriterien zu "vage" (BGH, aaO, Rn. 18). Es sei dementsprechend "kein überzeugender rechtlicher Maßstab vorhanden, anhand dessen Risiken und Qualen sowie sonstige Beschwerlichkeiten gewichtigt und dem Opfer dann "zugemutet" werden könnten" (BGH, aaO).
Die Entscheidung überzeugt nicht.
Zwar macht der Senat auf das eigentliche Problem -Bestimmtheit- aufmerksam, ist aber in der Folge inkonsequent.
Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass sowohl die Tathandlung als auch das Opferverhalten (zumeist: Unterlassen einer medizinischen Behandlung) kumulativ kausal für den Eintritt der dauerhaften schweren Folge sind. Es kann also auch das Opferverhalten nicht hinweg gedacht werden, ohne dass der tatbestandliche Erfolg im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit entfiele. Die sich, bei oberflächlicher Betrachtung zunächst aus diesen Erwägungen ergebende Frage nach der Kreation von "Opferpflichten" geht aus zweierlei Gründen fehl.
Zum einen ist die Bestrafung eines Täters nach einem, mit einer hohen Strafe bedrohten Gesetz nicht "Belohnung" für ein tadelloses Opferverhalten oder eben das Bemühen des Opfers seinen Schaden möglichst groß zu machen bzw. zu erhalten, so dass die Zweckrichtung bereits eine grundlegend andere ist. Das Opfer hat keinen Nachteil aus einer gegebenenfalls milderen Bestrafung. Im Übrigen sanktioniert das Zivilrecht derartiges Verhalten u.U. tatsächlich indem zum Beispiel ein Mitverschulden angenommen werden könnte.
Zum anderen wird man wohl nach dem Zweifelssatz davon ausgehen müssen, dass ein Täter von einem gewissen Selbsterhaltungstrieb bei dem Opfer ausgeht. Ob also die Verweigerung medizinischer Behandlung vom kognitiven Element des Vorsatzes umfasst ist, darf bezweifelt werden. Anders als der Bundesgerichtshof es darstellt dürfte die Motivation des Opfers sich einer Heilbehandlung zu unterziehen nicht sein dem Täter eine höhere Strafe zu ersparen, sondern seine eigenen Einschränkungen zu minimieren (anders der BGH, aaO, Rn. 17).
Der Senat selbst lässt offen, ob es in extrem gelagerten Fällen, etwa bei Böswilligkeit oder der Verweigerung einer, die schwere Folge beseitigenden Behandlung ausschließlich aus Schikane geschieht (BGH, aaO, Rn. 17) nicht doch auf das Opferverhalten ankommen könnte wobei die Entscheidung wohl so zu verstehen sein dürfte, dass der Senat in derartigen Fällen eine Zurechnung des tatbestandlichen Erfolges ablehnen würde. Wann allerdings eine solche Böswilligkeit anzunehmen sein soll, bleibt offen und führt damit ebenfalls zu einer Unbestimmtheit.
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