Die Umgrenzungsfunktion der Anklage am Beispiel des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt

Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift ist ein Grundsatz, dem in der täglichen Praxis, insbesondere bei -rechtlich oder tatsächlich- komplizierten Vorwürfen, nicht immer Rechnung getragen wird.

 

Dabei handelt es sich hierbei nicht um eine bloße Formalie, soll sie doch sicherstellen, dass ein Angeschuldigter sich über den ihm gemachten Vorwurf informieren und sich entsprechend verteidigen kann. Auch für das Gericht ist eine, den Voraussetzungen der Umgrenzungsfunktion genügende Anklageschrift zwingend notwendig um den Prozessgegenstand zu bestimmen. Weiter ist eine formgemäße Anklageschrift schon Voraussetzung dafür, dass ein Gericht das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts gegen den Angeschuldigten prüfen kann. Die Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts ist Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens, umgangssprachlich für die Zulassung der Anklage nach § 203 StPO.

Die Umgrenzungsfunktion

Ihre gesetzliche Grundlage findet die Umgrenzungsfunktion in § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO.

 

Dieser lautet:

 

"Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz)."

 

Wie bereits oben angedeutet, liegt der Sinn der Vorschrift darin, den Prozessgegenstand festzulegen, mit dem sich das Gericht aufgrund seiner Kognitionspflicht zu befassen hat. Deshalb sind in der Anklageschrift neben der Bezeichnung des Angeschuldigten Angaben erforderlich, welche die Tat als geschichtlichen Vorgang unverwechselbar kennzeichnen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zu urteilen hat (BGH, Urteil vom 2. März 2011 – 2 StR 524/10, BGHSt 56, 183, 186; BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 – 5 StR 628/93, BGHSt 40, 44 f.; KK-StPO/Schneider, 7. Aufl., § 200, Rn. 31). Jede einzelne Tat muss sich als historisches Ereignis von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Angeschuldigten unterscheiden lassen, damit sich die Reichweite des Strafklageverbrauchs und Fragen der Verfolgungsverjährung eindeutig beurteilen lassen (so auch: BGH, Beschluss vom 26.4.2017 - 2 StR 242/16 -, zitiert nach bundesgerichtshof.de).

 

Hierbei wird sich zumeist an den Anforderungen an die Tatkonkretisierung an den sachlich-rechtlichen Erfordernissen einer Tatbeschreibung in den schriftlichen Urteilsgründen orientiert.

 

Da jedoch die Eröffnung des Hauptverfahrens nur eine Verdachtsprüfung erfordert (siehe oben) und dies ein "Weniger" zu der, für eine Verurteilung notwendigen Überzeugungsbildung im Sinne des § 261 StPO darstellt, werden regelmäßig geringe Anforderungen an diese Erfordernisse gestellt (BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93 –, BGHSt 40, 44-48, hier zitiert nach juris; MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl. 2016, StPO, § 200, Rn. 18 mit weiteren Nachweisen).

Die Umgrenzungsfunktion bei Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt

Allgemeingültige Aussagen über die Art und Anzahl der Merkmale die der Anklagesatz zur Erfüllung der Umgrenzungsfunktion enthalten muss, lassen sich nicht treffen (so auch Wenske, aaO). Vielmehr ist eine Entscheidung anhand der Umstände des Einzelfalls notwendig (z.B. BGH, Beschluss vom 26.4.2017 - 2 StR 242/16 -, zitiert nach bundesgerichtshof.de, dort Rn. 4). Zentrales Kriterium ist hierbei die Unterscheidbarkeit des jeweiligen Verfahrensgegenstands. Wenske (aaO) drückt es treffend aus, wenn er schreibt: "Je größer die Möglichkeit ist, dass der Angeschuldigte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat, desto konkreter muss die Schilderung sein." Der Vorwurf des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt ist insoweit ein gutes Beispiel. Derartige Vorwürfe werden zumeist nach dem betroffenen Arbeitnehmer (oder Scheinselbstständigen) und dem jeweiligen Monat konkretisiert. In einigen Fallkonstellationen ist jedoch nicht ermittelt bzw. ermittelbar um welche Arbeitnehmer es sich handelt/e oder es ist der Beginn oder das Ende der Tätigkeit nicht ermittelbar wobei ein bestimmter (Kern-)Zeitraum der Beschäftigung aus Sicht der Ermittlungsbehörden feststeht.

 

Das Oberlandesgericht Hamm (Beschl. v. 18.08.2015 - 3 Ws 269/15, hier zitiert nach burhoff.de) hat beispielsweise die Bezeichnung "diverse Arbeitnehmer" nicht ausreichen lassen und zur die notwendig anzugebenden Merkmalen wie folgt ausgeführt:

 

"Bei dem Vorwurf des Veruntreuens von Arbeitsentgelt wird die Umgrenzungsfunktion der Anklage nur dadurch gewahrt, dass die einzelnen verfahrensgegenständlichen Taten, nämlich das jeweils einen konkreten Zeitraum betreffende Nichtabführen von Sozialversicherungsbeiträgen für bestimmte Personen an konkret benannte Sozialversicherungsträger trotz bestehender Pflicht, bezeichnet werden (OLG Celle, Beschluss vom 03. Juli 2013 – 1 Ws 123/13 –, juris; OLG Celle, Beschluss vom 19. Juli 2011 – 1 Ws 271-274/11 -, juris). Eine solche Darlegung eines konkreten Tatzeitraums, dem bestimmte Personen zugeordnet werden, stellt die in der Anklageschrift vorgenommene Zuordnung von „diversen Arbeitnehmern“ zu den jeweiligen Tatzeiträumen jedoch nicht dar. Vor dem Hintergrund der zuvor dargelegten Anforderungen wäre insoweit jeweils erforderlich gewesen, dass der Tatzeitpunkt, der jeweilige Arbeitnehmer und der jeweilige Sozialversicherungsträger konkret benannt werden, was indes nicht erfolgt ist. Das Landgericht hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass die erforderliche Individualisierung der Arbeitnehmer - um die angeklagten Taten von anderen, vergleichbaren Taten abgrenzen zu können - nicht erfolgt ist."

 

Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof die Umgrenzungsfunktion einer Anklageschrift nach als gewahrt angesehen, auch wenn diese keine Angaben dazu enthielt welche konkreten Arbeitnehmer nicht oder nicht richtig zur Sozialversicherung angemeldet wurden (BGH, Beschluss vom 26.4.2017 - 2 StR 242/16 -, zitiert nach bundesgerichtshof.de, dort Rn. 5). Zwar würden Art und Maß der der Angeklagten jeweils zur Last gelegten Unterlassung nicht schon aus dem Anklagesatz hinreichend deutlich. Die Taten seien gleichwohl hinreichend konkretisiert (BGH, aaO, Rn. 8).

 

Allerdings nahm der Bundesgerichtshof einen Verstoß gegen die sich ebenfalls aus § 200 StPO ergebende Informationsfunktion an, die nach der ständigen Rechtsprechung durch gerichtliche Hinweise (§ 265 Abs. 1 StPO) zur Gewährung rechtlichen Gehörs ausgeglichen werden muss (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – 1 StR 412/11, BGHSt 57, 88, 91; Urteil vom 9. November 2011 – 1 StR 302/11, NStZ 2012, 523, 524; Urteil vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 45). Da dies in dem entschiedenen Fall nicht in hinreichendem Maße stattfand, wurde das Urteil aus diesem Grund aufgehoben.

 

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist zu begrüßen, die aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofes verlagert ein eigentlich die Umgrenzungsfunktion betreffendes Problem in den Bereich der Informationsfunktion und senkt die, von der anklagenden Staatsanwaltschaft zu nehmenden Hürden zu Unrecht.

 

Die Frage welche konkreten Arbeitnehmer nicht oder nicht richtig zur jeweiligen Sozialversicherungsstelle angemeldet worden sein sollen, ist ebenso wie die Frage in welchem Zeitraum dies geschehen sein soll, eine Frage der Umgrenzungsfunktion, da hier die Unterscheidbarkeit betroffen ist. Ohne die Kenntnis welche Arbeitnehmer betroffen sein sollen ist die Verteidigung -im Lichte der Selbstbelastungsfreiheit- massiv eingeschränkt. So ist es beispielsweise nicht möglich die Abgrenzung zwischen selbstständigen Werkunternehmern und Arbeitnehmern, die für die Frage nach der Sozialversicherungspflicht ausschlaggebend ist, unerlässlich die konkret betroffene Person zu identifizieren und die Umstände der Tätigkeit dieser Person festzustellen.

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