Nemo tenetur - Die Selbstbelastungsfreiheit gilt auch außerhalb von Vernehmungen, zugleich Hinweis auf BGH 1 StR 277/17

Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und hat Verfassungsrang (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Oktober 1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 113; vom 22. Oktober 1980 – 2 BvR 1172/79, BVerfGE 55, 144, 150; vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43 und vom 14. Januar 2004 – 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1, 31). Er umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens (BVerfG, Beschluss vom 25. August 2014 – 2 BvR 2048/13, NJW 2014, 3506 f. Rn.13).

 

Dazu gehört, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 49; Urteil vom 3. März 2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279, 324). Der Beschuldigte muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Oktober 1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 113 und vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43; BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 17 ff. Rn. 20, 26 f.)

 

Allerdings ist die Gewährleistung dieses Grundsatzes nicht in allen Teilbereichen des Straf- und Strafprozessrechts -aus Sicht des Autors- nicht ausreichend.

 

Sei es, dass es aufgrund eines Fehlens einer Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten auch Ermittlungsergebnisse einer Verurteilung zugrunde gelegt werden können, die mittelbar aus Quellen stammen, die einem Beweisverwertungsverbot unterliegen oder das in einigen Rechtsbereichen wie z.B. dem Steuerstrafrecht oder auch im Arbeitsstrafrecht trotz des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit weiter Mitwirkungspflichten bestehen, die auch dann bestehen bleiben, wenn ein Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen geführt wird und er sich durch seiner Angaben selbst belasten müsste. Hierfür seien z.B. die umfassenden Mitwirkungspflichten nach § 5 Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz oder die Regelung des § 393 AO benannt.

 

Problematisch ist in der Praxis zumeist, dass sich der Beschuldigte über sein Schweigerecht -auch aufgrund einer mehr oder weniger ungeeigneten Belehrung- nicht oder nicht vollumfänglich bewusst ist. Hinzu kommt, dass bei der üblichen Ausgestaltung von Vernehmungen durch Polizei, Steuerfahndung oder Hauptzollamt das natürliche Rechtfertigungsbedürfnis angesprochen wird, dem viele Betroffene erliegen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur Verwertbarkeit von außerhalb einer Vernehmung gemachten Angaben

Der 1. Strafsenat hatte nunmehr die Frage zu klären, ob Angaben einer Beschuldigten, die bereits erklärt hatte keine Angaben machen zu wollen und dennoch z.B. im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung im Beisein von Polizeibeamten Angaben gemacht hatte, verwertet werden dürfen.

 

Der Bundesgerichtshof verneinte dies und nahm ein Verwertungsverbot an.

 

Diese Entscheidung stützte der 1. Strafsenat auf die im Folgenden wiedergegebenen Erwägungen:

 

"Dabei ist entscheidend, dass sich die Angeklagte nach der ersten Belehrung im ununterbrochenen polizeilichen Gewahrsam befand, in dem zu keinem Zeitpunkt auf ihr Recht zu Schweigen Rücksicht genommen wurde. Letztlich war sie auf diese Weise einer dauerhaften Befragung ausgesetzt. Das begann schon während des Transports der Angeklagten zum Arzt. Dabei lenkte die Polizeibeamtin KHMin K.       immer wieder das Gespräch auf die Tat, ebenso wie  auch im Wartebereich vor dem Arztzimmer. Die Angeklagte hatte zuvor ausdrücklich von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Sie war – weshalb sie ja einem Arzt vorgestellt werden musste –  in einer gesundheitlich sehr angeschlagenen Verfassung. Sie hatte eine Überdosis Psychopharmaka zu sich genommen und befand sich bei deutlich erhöhter Pulsfrequenz in der Angst, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Schon diese prekäre gesundheitliche Verfassung der dezidiert nicht aussagebereiten Angeklagten R.            verbot weitere Fragen."

 

"Weiterhin beeinträchtigten die Gesamtumstände der ärztlichen Untersuchung die Angeklagte R.           in ihrer Aussagefreiheit. Um einen korrekten ärztlichen Befund zu erhalten, war die Angeklagte R.           gezwungen, möglichst genaue  Angaben zur Brandentstehung zu machen, auch wenn dies mit einer Selbstbelastung einherging. Diese Zwangssituation hat die Zeugin KHMin K.       mit  ihrer Anwesenheit bewusst ausgenutzt, um die entsprechenden Erkenntnisse zu erheben, gerade weil sie genau wusste, dass die Angeklagte erklärt hatte, keine Angaben gegenüber den Ermittlungsbehörden machen zu wollen."

 

(BGH, Urteil vom 06.03.2018 - 1 StR 277/17 (Leitsatzentscheidung), hier zitiert nach bundesgerichtshof.de, dort Rn. 25ff)

Fazit und Perspektiven

Die Entscheidung ist zu begrüßen, ist sie doch -zumindest grundsätzlich- geeignet die Instanzgerichte zur Erziehung der Ermittlungsbehörden bei rechtswidrigen Methoden der Erkenntnisgewinnung zu erziehen.

 

Allerdings bleiben die Voraussetzungen unter denen Gerichte bei dem Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ein Beweisverwertungsverbot annehmen, undurchsichtig und im Ergebnis eine schwer vorhersehbare Frage des Einzelfalles.

 

So stellt der Senat in der vorgestellten Entscheidung tragend darauf ab, dass die Angeklagte in einem angeschlagenen gesundheitlichen Zustand war und dies von der Polizeibeamtin ausgenutzt wurde, obwohl dies -zumindest dem Wortlaut nach- kein Fall des § 136a StPO ist. 

 

Allerdings wird auch angedeutet, dass wenn die Angeklagte -auch trotz ihres gesundheitlichen Zustands- ausdrücklich mit dem Verbleib der Polizistin im Behandlungszimmer einverstanden gewesen wäre, die Entscheidung auch anders hätte ausfallen können.

 

Dies berührt ein zentrales Problem des deutschen Strafprozessrechts, welches hier weder in Gänze dargestellt noch gelöst werden kann und soll. Nur soviel: Soll jemand belehrt und anschließend vernommen werden, muss sichergestellt sein, dass derjenige in der Lage ist sowohl die Belehrung zu bestehen als auch sich über die rechtliche und tatsächliche Tragweite seiner Erklärungen im Klaren zu sein.

 

Daran fehlt es nach hiesiger Ansicht bereits bei beschränkt Geschäftsfähigen (Kindern, Geistig Behinderten, schwer Alkoholisierten etc.), so dass in diesen Fällen eine Vernehmung zumindest zunächst unterbleiben müsste. Dennoch wird gerade dieser Zustand von den Ermittlungsbehörden ausgenutzt, was nach hiesiger Ansicht einer Täuschung im Sinne des § 136a StPO gleichkommt.

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