Auch der juristische Laie hört immer wieder vom "Pflichtverteidiger". Vielleicht hat der ein oder andere auch den Satz "Sie können sich einen Anwalt nehmen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen vom Gericht ein Anwalt gestellt." aus amerikanischen Krimis im Ohr.
In Deutschland ist die Pflichtverteidigung in den §§ 140ff. StPO geregelt. Im Grundsatz spricht das Gesetz davon, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger beizuordnen ist, wenn ein Fall der sog. "notwendigen Verteidigung" vorliegt.
Fälle in denen Ihnen ein Verteidiger bestellt werden muss
Ein Fall der sog. "notwendigen Verteidigung" liegt vor, wenn ein Fall des § 140 Abs. 1 StPO vorliegt oder wenn die Schwere der Tat, die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder der Beschuldigte sprach- oder hörbehindert ist (§ 140 Abs. 2 StPO).
Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt schon nach dem Gesetz (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 9 StPO) vor, wenn
- die Hauptverhandlung vor einem Oberlandesgericht oder Landgericht stattfindet,
- dem Beschuldigten ein Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB, ein Jahr oder mehr Mindestfreiheitsstrafe) zur Last gelegt wird,
- das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann,
- gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112a, 112 oder einstweilige Unterbringung nach den §§ 275a Abs. 6 oder § 126a vollstreckt wird
- der Beschuldigte aufgrund einer richterlichen Anordnung mindestens 3 Monate in einer Anstalt untergebracht war und weniger als 2 Wochen vor der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen wurde,
- der Beschuldigte gegebenenfalls zeitweise zur Beobachtung und Begutachtung untergebracht werden soll,
- ein Sicherungsverfahren (besonderes Verfahren bei fehlender Schuldfähigkeit bzw. dauernde Verhandlungsunfähigkeit) durchgeführt wird, oder
- der bisherige Verteidiger von der Mitwirkung ausgeschlossen wurde.
- dem Verletzten nach den §§ 406h und 397a Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist.
Die meisten dieser Tatbestände sind selbsterklärend und zeigen außerdem, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Regelfall nur im gerichtlichen Verfahren erfolgen kann. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Beiordnung im Ermittlungsverfahren nur bei freiheitsentziehenden Maßnahmen oder für eine richterliche Vernehmung in Betracht kommt (§ 140 Abs. 1 Nr. Nr. 4 und Nr. 5 StPO; § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO). Darüber hinaus soll auch der Beschuldigte, der aufgrund einer psychischen Erkrankung, Sucht o.ä. nicht in der Lage ist seine Rechte wahrzunehmen oder ein Verfahren mitzugestalten, durch die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers unterstützt werden ( § 140 Abs. 1 Nr. 5 bis 7 StPO). Im Übrigen richten sich die katalogisierten Fälle der notwendigen Verteidigung nach der Schwere des Vorwurfs (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StPO). Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) wurde außerdem die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO eingeführt. Dieser sieht vor, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wenn dem Verletzten (Nebenkläger) ein Rechtsanwalt beigeordnet wurde. Begründet wird dies mit dem Grundsatz der Waffengleichheit. Für problematisch halte ich dabei, dass die Regelung nur den Fall der Beiordnung erfasst. Das bedeutet, die Regelung greift nur dann, wenn der Rechtsanwalt des Nebenklägers beigeordnet, also gerichtlich bestellt wurde. Vor dem Hintergrund der vielgepriesenen Waffengleichheit ist es jedoch notwendig, dass auch dann wenn der Nebenkläger überhaupt anwaltlich vertreten ist, ein Pflichtverteidiger bestellt wird (im Ergebnis so auch: Burhoff, Neuregelungen im Strafverfahren: (Schon wieder) Stärkung des Opferschutzes in: ZAP-Heft 22/2013, F. 22, Seite 701ff.).
Äußerst praxisrelevant ist die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO. Denn auch wenn die Anklage nicht zum Land- oder Oberlandesgericht erhoben wird oder der Vorwurf eines Verbrechens im Raum steht, kann ein Vorwurf so schwer wiegen, dass eine Beiordnung aufgrund der Schwere der (potentiellen) Tat geboten ist. Daneben -und meines Erachtens noch wichtiger- ist die Beiordnung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder der fehlenden Fähigkeit des Beschuldigten sich selbst zu verteidigen vorzunehmen.
Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der Tat wird von der Rechtsprechung nach Wertung der Gesamtumstände bei einer Straferwartung von einem Jahr angenommen (so z.B. OLG Saarbrücken StR 2014, 145 = VRR 2013, 469; LG Berlin, Beschluss vom 17. 6. 2015 – 504 Qs 67/15 [sog. Gesamtstrafübel]; LG Braunschweig, Beschluss vom 8. 1. 2016 – 13 Qs 258/15; LG Kleve in: NStZ-RR 2015, S. 51; AG Backnang in: StRR 2015, S. 184). Dies gilt nicht nur bei direkt im gleichen Verfahren drohenden Strafen sondern z.B. auch bei einem drohenden Bewährungswiderruf (so z.B. OLG Celle StRR 2012, S. 424; OLG Nürnberg StV 2014, S. 275). Zu beachten ist jedoch, dass es sich um Einzelfallentscheidungen handelt. Ein pauschaler Anspruch bei Vorliegen der beispielhaft aufgezählten Voraussetzungen besteht nicht. Im Zweifel sollte hierzu eine anwaltliche Beratung im Einzelfall erfolgen.
Bei der Frage, ob eine Beiordnung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage vorzunehmen ist, geht die Rechtsprechung weit auseinander. Während einige Gerichte in der jüngeren Vergangenheit eine derartige Prozesslage bereits angenommen haben, wenn für die Verteidigung (Vorbereitung der Hauptverhandlung) Aktenkenntnis notwendig ist (OLG Köln in: StraFo 2011, S. 508; LG Cottbus in: StV 2012, S. 526; LG Köln in: StV 2015, S. 20) stellen andere Gerichte höhere Anforderungen, so dass auch hier gilt, dass die Voraussetzungen am Einzelfall zu prüfen sind.
In Wirtschaftsstrafsachen gibt es zumeist viele Argumente, die für eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sprechen. So ist die Kenntnis und Auswertung von betriebswirtschaftlichen Gutachten in insolvenzstrafrechtlichen Verfahren absolut zwingend um eine sinnvolle und sachdienliche Verteidigung zu gewährleisten (so auch: LG Leipzig, Beschluss v. 25. 6. 2013 - 8 Qs 22/13). Ähnlich verhält es sich in Steuerstrafsachen, wenn um die Tatvorwürfe zu prüfen, die Kenntnis der Berechnungen des Finanzamts für Steuerstrafsachen und die Auswertung von Geschäftsunterlagen erforderlich ist (LG Essen, Beschluss vom 2. 9. 2015 - 56 Qs 1/15, LG Waldshut-Tiengen in: StV 2014, S. 270).
Derartiges gilt jedoch nicht nur in Wirtschaftsstrafsachen. So liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung regelmäßig beim Vorwurf der Verletzung einer Unterhaltspflicht gem. § 170 StGB vor, da in diesen Verfahren Unterhaltsberechnungen vorgenommen werden müssen, die der Beschuldigte nachvollziehen können muss, so dass er allein hierfür der Hilfe eines Rechtsanwalts bedarf (LG Bielefeld in: FamRZ 2012, S. 117; zu einem anderen Ergebnis kommt jedoch: LG Kleve, Beschluss vom 3. 4. 2014 - 120 Qs-401 Js 948/13-33/14 12 Ds 887/13).
Auch der Umfang des aufzuklärenden Sachverhalts kann eine Beiordnung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtlage begründen (LG Braunschweig, Beschl. v. 11. 6. 2014 - 13 Qs 88/14; OLG Hamm in: NStZ-RR 2012, S. 82). Die erstzitierte Entscheidung bezieht sich auf ein Verfahren in dem der Umfang der Akten drei Bände und ein Ordner Sonderhefte betrug. Des Weiteren waren 8 Zeugen zu vernehmen.
Bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen die eine besondere Glaubwürdigkeitsprüfung des Hauptbelastungszeugen erfordern, kann eine Beiordnung ebenfalls geboten sein (KG Berlin, Beschluss vom 25. September 2013 – (4) 121 Ss 147/13 (184/13) –, zitiert nach juris).
Ob der Beschuldigte in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen hängt von seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und weiteren Faktoren ab. Es liegt nahe, dass ein Beschuldigter, der unter Betreuung steht -also schon in wesentlichen Bereichen des täglichen Lebens überfordert ist und der Unterstützung bedarf- im Regelfall nicht in der Lage sein wird, sich selbst zu verteidigen (LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 26. 6. 2015 – 2 Qs 118/15; LG Berlin, Beschluss vom 14.12.2015 – 534 Qs 142/15). Ebenso dürfte sowohl unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage als auch bei der Fähigkeit zur Selbstverteidigung eine Beiordnung erforderlich sind, wenn die Schuldfähigkeit des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt zu prüfen ist (AG Backnang, Verfügung vom 20. November 2013 – 2 Ds 93 Js 42049/13 –, zitiert nach juris, dort 2. Orientierungssatz).
Das Verfahren zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers
Liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, bestellt das Gericht mit Zustellung der Anklageschrift einen Verteidiger (§ 141 Abs. 1 StPO). Dabei soll das Gericht nach Möglichkeit aus den im jeweiligen Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwälten auswählen. Allerdings hat der Beschuldigte das Recht einen Rechtsanwalt zu benennen. Das Gericht muss diesen benannten Verteidiger bestellen, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen (§ 142 Abs. 1 StPO).
Wichtige Gründe, die eine Beiordnung ausschließen sind z.B. das Verbot der Mehrfachverteidigung (der Verteidiger vertritt bereits einen Beschuldigten im gleichen Verfahren, § 146 StPO), die Weigerung der benannten Rechtsanwalts die Verteidigung zu übernehmen oder auch die, dem Gericht bekannte Unfähigkeit eines Rechtsanwalts den Beschuldigten sachgerecht zu verteidigen (Kammergericht Berlin in: JR 1987, 524).
Ob der Verteidiger am Gerichtsbezirk ansässig ist, spielt nach der Änderung des § 142 Abs. 1 StPO nur eine sehr untergeordnete Rolle. Grundsätzlich kann und darf jeder, in Deutschland zugelassene Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger auftreten. Wie Burhoff (in: StRR 2016, Heft Nrn. 5 und 6, jeweils S. 4 ff.) es mit Verweis auf die aktuelle Rechtsprechung so treffend ausdrückt:
"Die Ortsferne des Kanzleisitzes des Verteidigers steht der Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger aber nicht entgegen, wenn nicht ersichtlich ist, dass hierdurch eine sachdienliche Verteidigung des Angeklagten und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet würden (OLG Brandenburg StRR 2015, 181; OLG Braunschweig StraFo 2013, 115 = StRR 2013, 102 = StV 2013, 612; OLG Jena, Beschl. v. 10.10.2014 – 1 Ws 453/14; LG Duisburg, Beschl. v. 3. 9. 2012 - 35 Qs 716 Js 9/12 – 102/12)".
Ausschlaggebend ist vorrangig das, zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger bestehende Vertrauensverhältnis. Hohe Anforderungen sind an dieses Verhältnis jedoch nicht zu stellen. Es genügt, wenn der Verteidiger z.B. bereits im Ermittlungsverfahren oder in anderen Strafverfahren für den Beschuldigten tätig war (so schon zur alten Rechtslage: OLG Rostock, Beschluss vom 29. Januar 2008 – I Ws 1/08 –, zitiert nach juris). Auch intensive Gespräche im Vorfeld eines Beiordnungsantrags können ein derartiges Vertrauensverhältnis begründen.
Die, für die Beiordnung zuständigen Richter erkennen einen Fall der notwendigen Verteidigung häufiger nicht, so dass man als Verteidiger gezwungen ist, das Gericht mittels sinnvoller (Beiordnungs-) Anträge auf die Situation aufmerksam zu machen (so auch: Dahs in: Handbuch des Strafverteidigers, 8. Auflage, S. 93, Rn. 145).
Erkennt das Gericht von selbst einen Fall der notwendigen Verteidigung und hat der Beschuldigte nicht bereits einen Verteidiger, wird der Beschuldigte zumeist mit der Zustellung der Anklageschrift aufgefordert binnen einer bestimmten Frist einen Verteidiger zu benennen. Kommt er dem nicht nach, wird ihm vom Gericht ein Verteidiger bestellt. Da dies nicht selten Rechtsanwälte sind, die nicht schwerpunktmäßig im Strafrecht tätig sind, sollte sich hierauf keinesfalls verlassen werden und schnellstmöglich nach der Aufforderung der -spezialisierte- Rechtsanwalt des Vertrauens konsultiert werden.
Ist man sich nicht sicher, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, sollte ebenfalls ein spezialisierter Rechtsanwalt kontaktiert werden. Dieser kann Sie über die Rechtslage informieren und wird ggf. in Ihrem Namen einen Beiordnungsantrag stellen. In diesem kann er die rechtlichen und tatsächlichen Argumente anführen.
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