Keine Pflichtverteidigerbestellung bei haftrichterlicher Vorführung - Richtig aber falsch!

Der Aufsatz des -fast noch neuen- Landgerichtspräsidenten Dr. Tully und des -ebenfalls noch neuen- Richters am Bundesgerichtshof Wenske "Zur Pflichtverteidigerbestellung im Rahmen haftrichterlicher Vorführungen" (NStZ 4/2019, S. 183ff.) gibt Anlass sich einmal mit den Voraussetzungen und der Reichweite des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO auseinanderzusetzen.

 

Dieser wurde mit dem "Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens" vom 17.08.2017 (BGBl. I, S.3202) in seiner jetzigen Form in die Strafprozessordnung aufgenommen und lautet wie folgt:

 

"Das Gericht, bei dem eine richterliche Vernehmung durchzuführen ist, bestellt dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn die Staatsanwaltschaft dies beantragt oder wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint."

 

Wie bereits Schlothauer (StV 2017, 557) zutreffend bemerkt und auch Tully und Wenske einräumen, wird der Begriff der richterlichen Vernehmung verwendet und nicht weiter eingeschränkt. Da dies -nicht nur- nach Ansicht des Autors grundsätzlich für eine Anwendung der Norm auf alle richterlichen Vernehmungen, z.B. im Rahmen einer haftrichterlichen Vorführung und ggf. auch auf jede Hauptverhandlung spricht (so auch: Tully/Wenske, aaO, S. 184), bedarf der Anwendungsbereich der weiteren Einschränkung. 

 

Da das Argument, der Gesetzgeber habe durch die Nichtverwendung des Begriffs "Vorführung" gerade die -nur mögliche- haftrichterliche Vernehmung im Rahmen vom Anwendungsbereich des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO ausgenommen (Tully/Wenske, aaO, S. 183), allenfalls dann greift, wenn man den ggf. zufälligen Umstand, dass der Gesetzgeber den § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO unangetastet ließ und in § 141 Abs. 3 Satz 5 StPO -scheinbar klarstellend- postuliert, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erst mit dem Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft vorzunehmen sei, ist nach der weiteren, vielleicht sogar tatsächlichen Intention des Gesetzgebers zu fragen.

 

Es spricht, abseits der obigen Ausführungen, Einiges dafür, dass der Gesetzgeber tatsächlich nur von einer Anwendung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO auf Fälle der richterlichen Zeugenvernehmung ausging. Dies um das in Art. 6 Abs. 3 d) EMRK kodifizierte Konfrontationsrecht zu gewährleisten. 

 

Eine derartige Zielsetzung lässt sich durchaus aus den Gesetzesentwürfen zum oben bezeichneten Gesetz vom 30.12.2019 (BR-Drs. 796/16, S. 11; BT-Drs. 18/11277, S. 15) ableiten. Dort wird unter der Verwendung des öffnenden Begriffs "insbesondere" zur Anwendung des § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO auf die richterliche Vernehmung von Belastungszeugen verwiesen. Die Beiordung eines Pflichtverteidigers sei in diesen Fällen auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Wahrung des Konfrontationsrechts geboten. Weder während der Beratungen noch im Rechtsausschuss hat die Regelung Änderungen erfahren. Ob dies im Hinblick auf öffentlichkeitswirksamere Änderungen schlicht vergessen wurde oder bewusst für nicht diskussionswürdig erachtet wurde, kann nur gemutmaßt werden.

 

So rechtlich zutreffend diese Auslegung sein mag, so rechtspolitisch verfehlt ist sie bzw. vielmehr die ihr zugrundeliegende Gesetzesänderung.

 

Schon die Ingewahrsamnahme einer Person durch die Ermittungsbehörden mit dem Ziel einen Haftbefehl gegen den Betroffenen zu erwirken, stellt den wohl tiefgreifensten Eingriff in die Grundfreiheiten dar, zu denen der deutsche Staat -rechtlich legitimiert- in der Lage ist.

 

Von dem -zu Recht oder zu Unrecht- von der Maßnahme Betroffenen sind in kürzester Zeit einige schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, die unmittelbar und mittelbar nachhaltigen Einfluss auf sein weiteres Leben haben werden. Wird der Haftbefehl erlassen und in Vollzug gesetzt, führt dies unmittelbar zum Vollzug der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung. Mittelbar droht neben dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung auch der Verlust des gesellschaftlichen Ansehens, von familiären oder anderen privaten Bindungen und Beziehungen. Nicht selten geht bereits mit der Ingewahrsamnahme eine "unschöne" Berichterstattung in den -lokalen- Medien und/oder den sozialen Netzwerken einher.

 

Demnach sollte jegliche Handlung sorgfältig abgewogen werden. Dies ist dem -unter immensem Druck stehenden- Beschuldigten nicht möglich. Er bedarf der kundigen Hilfe und Beratung. Dies kann nur durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers einigermaßen gewährleistet werden weshalb für die zwingende Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei haftrichterlichen Vorführungen zu plädieren ist.

 

Soweit Tully und Wenske dahingehend argumentieren, dass eine derartige Drucksituation wegen der richterlichen Fürsorge nicht bestehe also der Richter durch seine umfassende Belehrung und ausgewogene Verfahrensweise dem Beschuldigten bei der Ausübung seiner Rechte wohlwollend gegenüber steht, ist dies schlicht realitätsfern. Richterliche Fürsorge als nicht gesetzlich normiertes Institut existiert im Wesentlichen nur in der Argumentation richterlicher Vereinigungen und wird ins Feld geführt um weitergehende Kontroll- und Einschränkungsmöglichkeiten anderer Verfahrensbeteiligter zu verhindern. Tatsächlich hat auch der Autor eher das Gegenteil erlebt. So erlebte der Autor selbst, dass der -sich bereits auf sein Schweigerecht berufende- Beschuldigte während der haftrichterlichen Vorführung immer wieder durch den Ermittlungsrichter befragt wurde oder wiederholt auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses oder eines Vorgehens nach § 31 BtmG hingewiesen wurde während andere Belehrung nicht oder nur sehr unzureichend erfolgten. Und dies gilt nicht nur für Termine vor dem Ermittlungs- bzw. Haftrichter. Wer einmal eine Hauptverhandlung vor dem Strafrichter am Amtsgericht verfolgt hat, bei der der Angeklagte unverteidigt war, hat mit großer Wahrscheinlichkeit erlebt, wie wenig es diesem möglich ist, seine Rechte wahrzunehmen oder schlimmstenfalls noch gegen Widerstände durchzusetzen.

 

Das Institut der "richterlichen Fürsorge" muss demnach leider und trotz anderer, positiver Beispiele zumindest im Hinblick auf die tägliche Praxis als Mythos bezeichnet werden.

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