Nachdem der Autor bereits in seinem Beitrag vom 30.07.2017 auf die Probleme bei der Annahme einer Konstellation notwendiger Verteidigung bei Vorwürfen der Steuerhinterziehung hingewiesen hatte, bleibt das Thema, auch nach umfassenden Änderungen der Rechts der notwendigen Verteidigung (Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128), weiter relevant und wird ggf. noch relevanter.
Mangels eines speziellen Tatbestands, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung -neben den allgemeinen Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 11 StPO sowie in den weiteren Fällen des § 140 Abs. 2 StPO- bei Steuerhinterziehung auch dann vor, wenn "wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage eines Verteidigers geboten erscheint" (§ 140 Abs. 2 StPO).
Wann eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers als geboten erscheinen lässt, ist eine Frage des Einzelfalls.
Sowohl die Rechtsprechung als auch die Literatur erschöpfen sich in Darstellungen zu Einzelfallentscheidungen, die sich nur schwerlich in Kategorien fassen lassen. Burhoff (Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Auflage, Rn. 2884) geht zunächst davon aus, dass eine Sachlage schwierig ist, wenn die Feststellungen zu Täterschaft und/oder Schuld eine umfangreiche Beweisaufnahme erfordern wobei bereits fraglich ist, wie umfangreich eine Beweisaufnahme sein muss um eine schwierige Sachlage zu begründen. Hierzu auch nur eine Größenordnung (z.B. am Umfang der Ermittlungsakten oder gar nach der Anzahl der Beweismittel) festzustellen, ist nicht möglich.
Eine Rechtslage soll dann schwierig sein, wenn es "bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf noch nicht abschließend geklärte oder schwer zu beantwortende Fragen ankommt oder es um schwierige Abgrenzungsfragen geht" (so: Burhoff, aaO, mit Verweis auf die Rechtsprechung; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 140, Rn. 28).
Eine häufig diskutierte Frage besteht darin, ob eine schwierige Sachlage besteht, wenn für eine effiziente Verteidigung Akteneinsicht erforderlich ist wobei wiederum bereits fraglich ist, wann dies der Fall sein soll. Nach Ansicht des Autors ist ausnahmslos Akteneinsicht erforderlich um die, in der Strafprozessordnung garantierten Beschuldigtenrechte in der Hauptverhandlung sinnvoll ausüben zu können. Freilich sieht dies die Rechtsprechung etwas, sagen wir "differenzierter".
Die Fülle an Entscheidungen ermöglicht es nicht, alle Fallgruppen und Aspekte sinnvoll und im Rahmen eines Blog-Eintrags darzustellen. Gelegentlich wird jedoch die Notwendigkeit der Akteneinsicht im Hinblick auf das Auskunftsrecht des unverteidigten Beschuldigten nach § 147 Abs. 7 StPO verneint (KG NStZ-RR 2013, 166 zitiert nach Burhoff, aaO, Rn. 2888).
Im Übrigen wird eine schwierige Sachlage von Gerichten im Zusammenhang mit der Notwendigkeit von Akteneinsicht beispielsweise dann angenommen, wenn "eine schwierige Beweisführung erfordert, sich ausführlich und exakt mit Zeugenaussagen und Urkunden" auseinanderzusetzen (LG Köln, Beschluss vom 29. August 2014 – 113 Qs 51/14 –, zitiert nach juris, dort Rn. 2 für den Vorwurf der falschen Verdächtigung).
Sind Vorwürfe der Steuerhinterziehung immer "schwierig"?
Was bereits allgemein ausgeführt wurde, gilt auch im Zusammenhang mit Vorwürfen aus dem Steuerstrafrecht. Aber auch hier ist zu beobachten, dass die Rechtsprechung keinesfalls einheitliche Kriterien für die Annahme einer schwierigen Sach- und Rechtslage verwendet.
Während das Landgericht Görlitz (Beschluss vom 13. Januar 2012 – 8 Qs 16/11 –, zitiert nach juris) -in kaum zu rechtfertigenden Art und Weise- den Beschluss zur Ablehnung der Beiordnung eines Pflichtverteidiger "gesund betet" und dabei u.a. ausführt, dass "aufgrund der von der Staatsanwaltschaft angebotenen Beweismittel und der Vorermittlungen" "für die Aufklärung des Tatherganges nicht mit größeren Schwierigkeiten zu rechnen" (Übersetzung durch den Autor: Den kriegen wir schon in die Pfanne gehauen) sei (LG Görlitz, aaO, Rn. 9) deutet das Landgericht Essen (LG Essen, Beschluss vom 02. September 2015 – 56 Qs 1/15 –, zitiert nach juris) an, beinahe bei jedem Vorwurf der Steuerhinterziehung eine schwierige Sach- und Rechtslage annehmen zu wollen.
Dem scheint sich nun auch das Landgericht Braunschweig anzuschließen (Beschluss vom 17.09.2020 - 11 Qs 182/20, zitiert nach burhoff.de)
Es führt dazu aus:
"Dabei kann die Frage dahinstehen, ob ein steuerstrafrechtlicher Vorwurf stets die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage begründet. Hierfür sprechen jedoch gewichtige Gründe: Es handelt sich um Blankettstrafrecht, bei dem die Rechtslage nur in einer Zusammenschau strafrechtlicher und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden kann. Verfügt der/die Angeklagte nicht nachgewiesenermaßen über Spezialwissen, ist er mit der Rechtsmaterie regelmäßig überfordert."
Dabei verweist das Landgericht u.a. auf die oben zitierte Entscheidung des Landgerichts Essen. Ergänzend weist das Gericht zurecht daraufhin, dass auch festzustellen ist, ob der Angeklagte Kenntnisse des Steuerrechts besitzt. Unterstellt werden dürften diese nicht. Interessanterweise berücksichtigt das Gericht auch die vom Autor in seinem Beitrag aus 2017 herangezogene Argumentation, dass im Steuerstrafrecht häufig sehr lange und ggf. auch lange zurückliegende Zeiträume verfahrensgegenständlich sind, was die Sachlage noch schwieriger macht.
Dem ist, nach Ansicht des Autors, nichts hinzuzufügen.
Außer, dass nach der Regelung des § 141 Abs. 1 StPO die Beiordnung nunmehr -zumindest bei einem Antrag des Beschuldigten- bereits im Ermittlungsverfahren vorzunehmen sein dürfte. Da die Bußgeld- und Strafsachenstelle des Finanzamts bei derartigen Vorwürfen regelmäßig als Ermittlungsbehörde im Sinne der §§ 386ff. AO auftreten dürfte, ist sie gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO auch verpflichtet den Antrag mit einer Stellungnahme -unverzüglich- dem nach § 142 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 3 StPO zuständigen Gericht vorzulegen.
Kommentar schreiben