In Deutschland ist die Pflichtverteidigung in den §§ 140ff. StPO geregelt. Im Grundsatz spricht das Gesetz davon, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger beizuordnen ist, wenn ein Fall der sog. "notwendigen Verteidigung" vorliegt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn ein Fall des § 140 Abs. 1 StPO vorliegt oder wenn die Schwere der Tat, die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder der Beschuldigte sprach- oder hörbehindert ist (§ 140 Abs. 2 StPO).
Wann eine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung einer Verteidigerin als geboten erscheinen lässt, ist eine Frage des Einzelfalls.
Sowohl die Rechtsprechung als auch die Literatur erschöpfen sich in Darstellungen zu Einzelfallentscheidungen, die sich nur schwerlich in Kategorien fassen lassen. Burhoff (Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Auflage, Rn. 2884) geht zunächst davon aus, dass eine Sachlage schwierig ist, wenn die Feststellungen zu Täterschaft und/oder Schuld eine umfangreiche Beweisaufnahme erfordern wobei bereits fraglich ist, wie umfangreich eine Beweisaufnahme sein muss um eine schwierige Sachlage zu begründen. Hierzu auch nur eine Größenordnung (z.B. am Umfang der Ermittlungsakten oder gar nach der Anzahl der Beweismittel) festzustellen, ist nicht möglich.
Eine Rechtslage soll dann schwierig sein, wenn es "bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf noch nicht abschließend geklärte oder schwer zu beantwortende Fragen ankommt oder es um schwierige Abgrenzungsfragen geht" (so: Burhoff, aaO, mit Verweis auf die Rechtsprechung; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 140, Rn. 28).
Eine häufig diskutierte Frage bestand in der Vergangenheit darin, ob eine schwierige Sachlage schon dann besteht, wenn für eine effiziente Verteidigung Akteneinsicht erforderlich ist wobei wiederum bereits fraglich ist, wann dies der Fall sein soll. Nach Ansicht des Autors ist ausnahmslos Akteneinsicht erforderlich um die, in der Strafprozessordnung garantierten Beschuldigtenrechte in der Hauptverhandlung sinnvoll ausüben zu können. Freilich sah dies die Rechtsprechung etwas, sagen wir "differenzierter".
Ob es auf die Frage in welchen Fällen und Fallkonstellationen Akteneinsicht zur effektiven Verteidigung notwendig ist, in Zukunft noch ankommen wird, erscheint im Hinblick auf die aktuelle Rechtsprechung zumindest zweifelhaft.
So entschied das Oberlandesgericht Rostock mit Beschluss vom 31.08.2021 (20 Ws 226/21) über die sofortigen Beschwerden zweier Angeklagter gegen die Ablehnung der Beiordnung ihrer Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger in einem Verfahren wegen des Vorwurfs des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und ging dabei auch auf das Argument es läge ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, da Akteneinsicht notwendig sei, die den Angeklagten verwehrt sei, ein.
Der Senat weist das Argument -insoweit zurecht- mit Verweis auf die aktuelle Rechtslage zurück und führt dazu aus:
"Die Angeklagten haben ein eigenständiges Akteneinsichtsrecht nach § 147 Abs. 4 StPO. Mit Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (5.7.2017, BGBI. 2017 l, Seite 2208) ist ein unmittelbares Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten geregelt worden. Die neue Bestimmung nimmt Forderungen nach einer Angleichung des Akteneinsichtsrechts mit demjenigen des Verteidigers auf (BeckOK StPO/Wessing StPO § 147 Rn. 2 m.w.N). In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt:
„Der bisherige § 147 Absatz 4 StPO, der auf entsprechenden Antrag die Mitgabe der Akten zum Zwecke der Einsichtnahme durch Rechtsanwälte erlaubte, soll durch die allgemeine Regelung in § 32e StPO-E (siehe schon oben Artikel 1 Nummer 2) ersetzt werden. § 147 Absatz 4 StPO-E soll künftig das unmittelbare Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, regeln. Das Akteneinsichtsrecht des sich selbst verteidigenden Beschuldigten gehört zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens gemäß Artikel 6 Absatz 1 und 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (vgl. hierzu das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Februar 1997, Az. 10/1996/629/812, NStZ 1998, 429). Im Einklang damit räumt der derzeitige Absatz 7 dem Beschuldigten das Recht ein, Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erhalten, „soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist. der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Die noch bestehende Beschränkung auf „Auskünfte und Abschriften aus den Akten" beruhte auf einer vom Beschuldigten potentiell ausgehenden Manipulationsgefahr in Bezug auf die Originalakte und auf den mit einer etwaigen Verpflichtung zur Anfertigung von Duplikaten der Ermittlungsakten verbundenen nicht unerheblichen Aufwand für Staatsanwaltschaften und Gerichte (vgl. Lüderssen/Jahn in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2007, § 147 Rn. 8)."
Die Angeklagten haben mithin ein unmittelbares Recht auf Akteneinsicht. Anders als § 147 Abs. 7 a. F. beschränkt sich der Anspruch nicht auf „Auskünfte und Abschriften" aus den Akten; die Neuregelung macht den Umfang der Einsicht auch nicht mehr davon abhängig, inwieweit „dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist" (KK-StPO/Villnow, 8. Aufl., §147 Rn. 14).“
Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. In Fällen in denen die Verteidigerin allein Informationsmittlerin, also Empfängerin und Kopiererin von Ermittlungsakten wäre, dürfte allein deshalb ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht -mehr- anzunehmen sein. Allerdings setzt sich auch das Oberlandesgericht in der zitierten Entscheidung nicht mit dem -nach Ansicht des Autors- eigentlichen Grund für die Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung auseinander. Wichtiger als die bloße Information über den Akteninhalt ist dessen Erläuterung und Einordnung durch eine fachkundige Person, insbesondere bei komplexen oder abstrakten Sachverhalten wie sie z.B. in Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren vermehrt vorkommen.
So handelt es sich bei Steuerstrafrecht um Blankettstrafrecht, bei dem die Rechtslage nur in einer Zusammenschau strafrechtlicher und steuerrechtlicher Normen zutreffend erfasst und bewertet werden kann. Verfügt die Angeklagte nicht nachgewiesenermaßen über Spezialwissen, ist sie mit der Rechtsmaterie regelmäßig überfordert (so auch: LG Braunschweig, Beschluss vom 17.09.2020 - 11 Qs 182/20).
Gleiches gilt nach hiesigem Dafürhalten auch bei dem Vorwurf des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a StGB. Der Tatbestand ist sozialrechtsakzessorisch ausgestaltet, so dass -außer in Fällen des reinen Nichtzahlens von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung- immer auch sozialrechtliche Vorschriften zu kennen und zu prüfen sind, um den Vorwurf dem Grunde und auch der Höhe nach prüfen zu können. Zu unterstellen, dass dies einer -auch wirtschaftlich erfahrenen- Beschuldigten möglich wäre ist lebensfremd. Allein die von der sozial- und strafgerichtlichen Rechtsprechung geschaffenen Prüfkriterien zur Feststellung der Arbeitgebereigenschaft überfordern regelmäßig nicht nur juristische Laien. Hinzukommt, dass die oftmals als sachverständige Zeuginnen herangezogenen Mitarbeiterinnen der Deutschen Rentenversicherung Mitarbeiterinnen der Geschädigten/Verletzten sind und somit eher als "Partei" als als Sachverständige in Betracht kommen. Die Verteidigung der Beschuldigten letztlich -wie es das Oberlandesgericht tut- auf das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflicht abzuwälzen, wird dem in keiner Weise gerecht.
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