Der Begriff der nicht geringen Menge entstammt den Regelungen der §§ 29a Abs. 1
Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4 sowie 30a Abs. 1 des Betäubungsmittelgesetzes. Dort sind für Taten, bei denen mit eine nicht geringe Menge Betäubungsmittel umgegangen wird, teils erhebliche Strafverschärfungen vorgesehen. So erhöht sich sowohl bei dem Besitz als auch bei dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln die Strafandrohung von Geldstrafe auf mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe. Damit handelt es sich dann um ein Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB. Demnach ist die Frage, ob und unter welchen Bedingungen von einer nicht geringen Menge eines Betäubungsmittels auszugehen ist, von essenzieller Bedeutung.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bestimmt sich der Grenzwert der nicht geringen Menge eines Betäubungsmittels stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise und -intensität (siehe nur BGH, Urteile vom 3. Dezember 2008 -2 StR 86/08, BGHSt 53, 89 und vom 17. November 2011 - 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60). Maßgeblich ist zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs (BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987 -1 StR 612/87, BGHSt 35, 179). Fehlen hierzu gesicherte Erkenntnisse, so errechnet sich der Grenzwert als ein Vielfaches der durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht an den Genuss dieser Droge gewöhnten Konsumenten. Das Vielfache ist nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes zu bemessen (BGH, Urteil vom 3. Dezember 2008 -2 StR 86/08, BGHSt 53, 89). Lassen sich auch zum Konsumverhalten keine ausreichenden Erkenntnisse gewinnen, so entscheidet ein Vergleich mit verwandten Wirkstoffen (BGH, Urteile vom 24. April 2007 -1 StR 52/07, BGHSt 51, 318 und vom 17. November 2011 -3 StR 315/10, BGHSt 57, 60). Danach kann die nicht geringe Menge eines Betäubungsmittels wegen der in illegalen Betäubungsmitteln sehr unterschiedlichen Wirkstoffgehalte grundsätzlich nicht anders festgesetzt werden als durch ein Vielfaches des zum Erreichen eines stofftypischen Rauschzustandes erforderlichen jeweiligen Wirkstoffs (Konsumeinheit). Dabei müssen die Grenzwerte für die verschiedenen Betäubungsmittel gerade wegen ihrer qualitativ unterschiedlichen Wirkung aufeinander abgestimmt sein. Die Anzahl der, für die Bestimmung des Grenzwertes zugrunde zu legenden, bestimmt sich ebenfalls nach der Gefährlichkeit und Wirkung der jeweiligen Substanz (Bundesgerichtshof, Urteil des 2. Strafsenats vom 3.12.2008 - 2 StR 86/08, zitiert nach bundesgerichtshof.de).
Die Grenzwertbestimmung bei synthetischen Cannabinoiden
Wie sich am aktuellen Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 27.01.2022 - 3 StR 155/21 (hier zitiert nach bundesgerichtshof.de) gut erkennen lässt, geht dieser bei synthetische Cannabinoiden den letztgenannten Weg des Vergleichs mit verwandten Wirkstoffen wie THC oder anderen synthetischen Cannabinoiden (aaO, Rn. 13).
Ausgangspunkt ist daher die für die psychoaktive Wirkung von Cannabinoiden relevante Bindung und Wirkung der Substanz am CB1-Rezeptor. Hierzu führt der 3. Strafsenat unter Hinweis auf den hinzugezogenen Sachverständigen -auszugsweise- aus:
"Wie auch andere Cannabimimetika wirken 5F-ADB und AMB-FUBINACA am CB1-Rezeptor - anders als THC - als volle Agonisten. Dies führt dazu, dass sie wesentlich stärkere Effekte, auch solche lebensbedrohlicher Art, erzeugen können. Es tritt - anders als bei THC - keine Sättigung ein, vielmehr werden die Wirkungen, also auch die unerwünschten Nebenwirkungen, durch eine höhere Dosis verstärkt." (aaO, Rn. 16)
In der Folge wird die Potenz eines Wirkstoffes dann sowohl durch dessen Bindungsaffinität an den CB-1-Rezeptor als auch durch die mittlere effektive Stoffmengenkonzentration (EC50-Wert) bestimmt.
"Die Bindungsaffinität des Wirkstoffs bemisst dieser - offensichtlich unter der plausiblen Annahme, dass die Bindungen der Cannabimimetikum-CB-Rezeptor-Komplexe dem Massenwirkungsgesetz gehorchen - anhand der Bindungskonstante Ki. Je größer dabei die Affinität der Substanz zu den CB-Rezeptoren ist, umso mehr Rezeptoren werden bei einer bestimmten Stoffkonzentration besetzt und umso kleiner ist der Ki-Wert. Kleinere Ki-Werte deuten demzufolge auf eine Bindung an eine größere Anzahl an Rezeptoren und damit eine höhere Potenz des Wirkstoffs hin." (aaO,. Rn. 18).
Da dieser Wert allein nicht sehr aussagekräftig ist, ist auch der EC50-Wert zur Beurteilung der psychoaktiven Effektivität heranzuziehen. Auch bei diesem gilt, dass ein kleiner Wert auf eine hohe Wirkung der Substanz schließen lässt.
"Nach den Ausführungen des Sachverständigen liegt der innerhalb einer Studie ermittelte Ki-Wert für AMB-FUBINACA bei 0,39 nM (Nanomolar), der EC50-Wert zwischen 0,27 nM und 2,0 nM, für 5F-ADB ist der Ki-Wert nicht be-kannt, der EC50-Wert liegt bei 0,59 nM. Zum Vergleich dazu weist THC einen Ki-Wert zwischen 10,2 nM und 40,7 nM sowie einen EC50-Wert zwischen 58 nM und 250 nM auf. Die synthetischen Cannabinoide JWH-073 und JWH-018, für die der Bundesgerichtshof die nicht geringe Menge auf sechs Gramm bzw. zwei Gramm festgelegt hat (vgl. BGH, Urteile vom 14. Januar 2015 - 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134), weisen demgegenüber Ki-Werte von 8,9 nM bzw. 1,5 bis 9,5 nM und EC50-Werte von 45,6 nM bzw. 10,1 bis 36,6 nM auf." (aaO, Rn. 20)
Demzufolge musste aufgrund der erheblich größeren Wirksamkeit und des Umstands, dass auch lebensbedrohliche Effekte eintreten und eine Sättigung nicht eintritt, dazu, dass die Grenzwerte für die nicht geringe Menge erheblich niedriger als bei THC festzusetzen waren.
Eine Übersicht zu den Grenzwerten der nicht geringen Menge bei synthetischen Cannabinoiden
Der Rechtsprechung lassen sich derzeit die folgenden Grenzwerte für die Annahme einer nicht geringen Menge bei synthetischen Cannabinoiden entnehmen (kein Anspruch auf Vollständigkeit):
Betäubungsmittel |
Wirkstoff-Grenzwert (nicht geringe Menge) |
Entscheidungen |
Cannabis |
7,5 g Tetrahydrocannabinol (THC) |
BGH, Beschluss vom 20. Dezember 1995 – 3 StR 245/95 –, BGHSt 42, 1-15; aktuell: BGH, Urteil vom 21. April 2016 – 1 StR 629/15 –, zitiert nach juris |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
2 g Wirkstoff JWH-210 |
OLG Nürnberg, Urteil vom 04. April 2016 – 2 OLG 8 Ss 173/15 –, juris |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
6 g Wirkstoff JWH-019 |
BGH, Urteil vom 05. November 2015 – 4 StR 124/14 –, juris |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
2 g Wirkstoff JWH-018 |
BGH, Urteil vom 14. Januar 2015 – 1 StR 302/13 –, juris |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
6 g Wirkstoff JWH-073 |
BGH, Urteil vom 14. Januar 2015 – 1 StR 302/13 –, juris, Rn. 92 |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
6 g Wirkstoff CP 47,497 |
BGH, Urteil vom 14. Januar 2015 – 1 StR 302/13 –, juris, Rn. 34 und 55; BGH, Urteil vom 14. Januar 2015 – 1 StR 302/13 –, juris, Rn. 92 |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
1 g 5F-ADB |
BGH, Beschluss vom 27 Januar 2021 – 3 StR 155/21, bundesgerichtshof.de |
Synthetische Cannabinoide, z.B. „Spice“, „SenCation“, „Jamaican Gold Extreme“ |
1 g AMB-FUBINACA |
BGH, Beschluss vom 27 Januar 2021 – 3 StR 155/21, bundesgerichtshof.de |
Fazit und "by the way"
Nach den vorstehenden Ausführungen sollte klar sein, dass sich synthetische Cannabinoide -außer ihrem Namen nach- nicht mit dem in weiten Teilen der Welt als harmlos angesehenen, natürlichen Cannabis vergleichen lässt. Keinesfalls handelt es sich, gerade im Hinblick auf die hohe Wirksamkeit und den Umstand, dass keine Sättigung eintritt, um eine "weiche" Droge. Insbesondere die Wirkstoffe 5F-ADB und AMB-FUBINACA, aber auch JWH-018, sind hochpotent und eher den sogenannten "harten" Drogen gleichzustellen. Mit Blick auf den Konsumenten ist die Gefährlichkeit regelmäßig sogar noch höher einzuschätzen als bei den "klassischen harten Drogen" wie z.B. Kokain oder Heroin, da die Darreichungsform als Kräutermischung und der Konsum durch das Rauchen die Assoziation mit dem Konsum natürlichen Cannabis nahelegen und so ein falsches Gefühl von Sicherheit erzeugen. Fest steht jedoch, synthetische Cannabinoide sind hochpotente Designerdrogen und können, auch aufgrund ihrer Darreichungsform vom Konsumenten nicht eingeschätzt werden. Mit Marihuana oder Haschisch haben sie so gut wie nichts zu tun.
Für Beschuldigte bedeutet die dargestellte Rechtsprechung, dass wenn sie Umgang mit synthetischen Cannabinoiden pflegen (z.B. durch Besitz, Handeltreiben o.Ä.), schnell auch der Verdacht des Umgangs mit einer nicht geringen Menge im Raum steht. Neben der erheblichen Strafandrohung (s.o.) besteht dann auch die Möglichkeit für die Ermittlungsbehörden auf eingriffsintensive Maßnahmen wie z.B. die Telekommuniktionsüberwachung gemäß § 100a Abs. 2 Nr. 7 b) StPO zuzugreifen.
Zum Abschluss noch ein kleiner Hinweis: Der Bundesgerichtshof setzt im zitierten Beschluss das "unerlaubt" in Anführungszeichen.
Warum tut der Senat dies?
Nach der -zutreffenden- aktuellen Rechtsprechung des 3. Strafsenats ist die ausdrückliche Bezeichnung als "unerlaubt" entbehrlich, da Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz ausschließlich den unerlaubten Umgang mit Betäubungsmitteln im Sinne des Gesetzes betreffen. Demnach handelt es sich bei der Unerlaubtheit zwar um ein Tatbestandsmerkmal, welches jedoch nicht in den Urteilstenor aufzunehmen ist (BGH, Beschluss vom 25.01.2021 - 3 StR 464/21). Deshalb gab der Senat den landgerichtlichen Tenor in kommentierter Art und Weise wieder.
Kommentar schreiben