Der § 56f StGB des Strafgesetzbuches regelt den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung. Hintergrund ist, stark vereinfacht, dass das Gericht bei einer Verurteilung des/der Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe, die Vollstreckung dieser zur Bewährung aussetzen kann (vgl. § 56 StGB). Das bedeutet, dass der Angeklagte, auch wenn das Urteil rechtskräftig wird, nicht in Haft muss. In einem selbstständigen Beschluss, der zumeist unmittelbar nach/mit der Urteilsverkündung ergeht, bestimmt das Gericht die Bewährungszeit und ggf. Auflagen und Weisungen (§§ 56a bis 56d StGB).
Verstößt die verurteilte Person gegen die Auflagen und Weisungen (§ 56f Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StGB) oder begeht innerhalb der Bewährungszeit eine Straftat, ist durch das Gericht zu prüfen, ob die Strafaussetzung zu widerrufen ist. Kommt es zu einem Widerruf, muss die ursprünglich ausgeurteilte Freiheitsstrafe verbüßt werden.
Im Folgenden soll es um den Widerruf wegen der Begehung von Straftaten innerhalb der Bewährungszeit gehen. Es ist nämlich keinesfalls so, dass die Begehung jeder Straftat bereits zu einem Bewährungswiderruf führt. So schränkt bereits der Wortlaut des Gesetzes diesbezüglich ein, wenn es heißt: "(...) eine Straftat begeht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat." Allerdings reicht nach der Rechtsprechung jede Straftat "von einigem Gewicht" (KG, Beschlüsse vom 17. August 2015 – 2 Ws 175-176/15 – und 23. August 2013 – 2 Ws 405/13 –). Ausgeschlossen als Widerrufsgrund sind daher nur Bagatellstraftaten.
Wann konkret die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzung vorliegen und insbesondere die Frage, wann statt von einem Widerruf von der Erteilung weiterer Auflagen und Weisungen (§ 56f Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder von der Verlängerung der Bewährungszeit Gebrauch zu machen ist, ist eine Frage des Einzelfalles und Gegenstand unzähliger Entscheidungen deren Wiedergabe und Kommentierung den Rahmen eines Blog-Eintrags weit übersteigen.
Auf eine aktuelle Entscheidung des Kammergerichts soll aber hingewiesen werden.
In seinem Beschluss vom 23.11.2022 (-2 Ws 161/22-, hier zitiert nach juris) geht das Kammergericht auf zwei in diesem Zusammenhang interessante Fragen ein. Zum einen beschäftigt es sich mit der Frage, wie mit dem Umstand umzugehen ist, dass die neuerliche Straftat im Sinne des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB durch einen Strafbefehl, also regelmäßig ohne eine Hauptverhandlung geahndet wurde und zum anderen geht das Gericht auf die Frage ein, ob und ggf. wie lange dem Ablauf der Bewährungszeit ein Widerruf der Strafaussetzung noch erfolgen kann.
Zur erstgenannten Frage vertritt das Kammergericht in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass auch eine Verurteilung durch einen Strafbefehl, der ja gemäß § 410 Abs. 3 StPO einem rechtskräftigen Urteil gleichsteht, in der Regel einen hinreichend hohen Grad der Verlässlichkeit bietet, um sich eine Überzeugung von der Begehung einer neuen Straftat zu verschaffen. Anlass zu Nachprüfung hinsichtlich der neuen Tat(en) bestehe danach dann, wenn sich das dem Strafbefehlsverfahren typische Risiko für den Beschuldigten verwirklicht, welches darin bestehe, dass ein aufgrund eines summarischen – dem Urteilsverfahren hinsichtlich der Wahrheitsermittlung deutlich unterlegenen – Verfahrens ergangenes Erkenntnis allein durch formelle Versäumnisse des Beschuldigten Rechtskraft erlangt habe (KG, aaO, Rn. 7). Dies sei z.B. dann der Fall, wenn der Strafbefehl nur auf hinreichenden Tatverdacht gestützt wurde, eine an Sicherheit grenzende Überzeugungsbildung nach Aktenlage also nicht möglich sei und die Rechtskraft ohne eine den Strafbefehl anerkennende Willensentschließung des Beschuldigten – der sich gegen den Strafbefehl zur Wehr gesetzt hat oder zur Wehr setzen wollte – allein aufgrund seines prozessuales Versäumnis eingetreten ist ( KG, aaO, m.w.N.).
Vereinfacht zusammengefasst, ist das -den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung prüfende- Gericht zu weiteren Prüfung (der, der Verurteilung im Strafbefehlsverfahren zugrundeliegenden Taten) nur veranlasst, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Strafbefehl -was rechtlich gesehen der Regelfall ist- auf einen hinreichenden Tatverdacht gestützt wurde, eine Überführung nach Aktenlage nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit möglich ist und der Verurteilte sich nicht oder jedenfalls nicht (teil-)anerkennend zum Vorwurf geäußert hat.
Zur zweitgenannten Frage, nämlich ob und wie eng der Widerruf zeitlich an das Ende der Bewährungszeit geknüpft ist, macht das Kammergericht klare Vorgaben indem es zunächst erklärt, dass eine analoge Anwendung des § 56g Abs. 2 Satz 2 StGB, wonach der Widerruf des Straferlasses nur innerhalb eines Jahres nach Ablauf der Bewährungszeit und von 6 Monaten nach Rechtskraft der Verurteilung zulässig ist, nicht in Frage kommt. Es sei eine Frage des Einzelfalles wonach danach zu fragen ist, wie lange der Verurteilte mit einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung rechnen musste. Unzulässig sei dieser erst, wenn Gründe der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes entgegenstehen (KG, aaO, Rn. 18).
Dem ist zuzustimmen. Eine pauschale Zeitspanne nach der der Widerruf unzulässig ist, verbietet sich nach hiesigem Dafürhalten. Dabei besteht eine berechtigte Ungleichbehandlung des Widerrufs der Strafaussetzung zu dem Widerruf des Straferlasses gemäß § 56g Abs. 2 StGB. Berechtigt deshalb, da es sich um zwei schwerlich vergleichbare Situationen handelt. Beim Widerruf der Strafaussetzung wurde dem Verurteilten gegenüber -noch- keine Erklärung abgegeben, dass kein Widerruf der Strafaussetzung mehr erfolgen wird, also aus seiner Sicht keine Verbüßung der ausgeurteilten Freiheitsstrafe mehr droht. Ganz anders beim Widerruf des Straferlasses. Hier ist dem Verurteilten durch das Gericht zunächst mitgeteilt worden, dass ihm seine Strafe erlassen wird. Danach kann er darauf vertrauen, dass er nicht mehr zur Verbüßung dieser Strafe herangezogen wird. Dieses Vertrauen bzw. der Schutz dessen führt dazu, dass der Widerruf des Straferlasses nur in den engen zeitlichen Grenzen des § 56g Abs. 2 StGB und auch nur unter der weiteren Voraussetzung, namentlich der -neuerlichen- Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten erfolgen darf. Ein solch schützenswertes Vertrauen wird durch den einfachen Ablauf der Bewährungszeit nicht geschaffen. Hier müssen weitere Umstände hinzutreten, die das Vorliegen eines Solchen begründen können. Gegen ein solches Vertrauen spricht z.B., dass dem Verurteilten bereits während der laufenden Bewährungszeit ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen ihn bekannt gegeben wurde. Gleiches gilt für eine neuerliche Anklageerhebung oder gar eine -nicht rechtskräftige- Verurteilung am Ende der Bewährungszeit. Umgekehrt spricht mit zunehmenden Zeitablauf nach dem Ende der Bewährungszeit immer mehr für ein schützenswertes Vertrauen des Verrurteilten. Dies muss auch dann gelten, wenn lange Zeit nach der Rechtskraft der neuerlichen Verurteilung kein Widerrufsverfahren angestrengt wird wobei dem entgegen gehalten werden kann, dass ein Verurteilter wohl kaum auf den folgenlosen Bewährungsverstoß vertrauen darf.
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