Der Nebenkläger und das Selbstleseverfahren

In den §§ 395ff. StPO ist die Möglichkeit geregelt, sich dem Strafverfahren als Nebenkläger anzuschließen. Der Anschluss als Nebenkläger hat verschiedene Vorteile. Zum einen hat der Nebenkläger verschiedene Kontrollrechte, ihm steht über einen Rechtsanwalt ein Akteneinsichtsrecht nach § 406e Abs. 1 Satz 2 StPO zu. Des Weiteren ist der Nebenkläger zur Hauptverhandlung zu laden, er hat das Recht Zeugen zu befragen, kann einen Befangenheitsantrag gegen den Richter stellen, kann verfahrensleitende Anordnungen des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden und Beweisanträge stellen (§ 397 Abs. 1 StPO).

 

Nebenkläger kann zunächst jeder werden, der durch eine rechtwidrige Tat im Sinne des § 395 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 6 StPO verletzt ist. Darüber hinaus steht das Recht zur Nebenklage wegen § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO auch Angehörigen zu, deren Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner durch eine rechtwidrige Tat getötet wurden. Dies umfasst nicht nur Tötungsdelikte wie Mord, Totschlag oder fahrlässige Tötung, sondern auch nur durch einen Tötungserfolg qualifizierte Taten wie z.B. Körperverletzung mit Todesfolge und Raub mit Todesfolge (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, § 395, Rn. 7). Der § 395 Abs. 3 StPO enthält außerdem eine Auffangklausel nach der auch Verletzte von Taten die nicht im Katalog des § 395 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 6 StPO enthalten sind, nebenklageberechtigt sind, wenn dies aus besonderen Gründen zur Wahrnehmung ihrer Interessen geboten erscheint. Da dieser Katalog nach allgemeiner Meinung nicht abschließend ist (BGH, Beschluss v. 09.05.2012, 5 StR 523/11; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Auflage, Rn. 2686), können zumindest theoretisch alle Delikte zur Nebenklage berechtigen.

 

Obwohl das Institut der Nebenklage bereits seit Inkrafttreten der Strafprozessordnung Teil dieser ist (vgl. dazu: Joachim Herrmann: Die Entwicklung des Opferschutzes im deutschen Strafrecht und Strafprozessrecht. ZIS 2010, Heft 3, S. 236) sind die Möglichkeiten und Grenzen dieser noch immer nicht in allen Facetten höchstrichterlich geklärt.

Das Selbstleseverfahren

Urkunden, also z.B. Verträge, TKÜ-Protokolle, Ausrucke von E-Mails, Briefe, Rechnungen o.Ä. werden grundsätzlich durch das Verlesen dieser in der Hauptverhandlung eingeführt. Geregelt ist dies in § 249 Abs. 1 StPO.

 

Da das Verlesen sämtlicher relevanter Urkunden, z.B. in Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren regelmäßig sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, hat der Gesetzgeber das sogenannte Selbstleseverfahren in die Strafprozessordnung aufgenommen. Damit ist es, außer in Fällen der §§ 253, 254 StPO, möglich von der Verlesung in der Hauptverhandlung abzusehen.

 

Praktisch läuft dies dergestalt ab, dass der Vorsitzende ankündigt, bestimmte Urkunden im Selbstleseverfahren einführen zu wollen. Nachdem den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, ergeht sodann eine Anordnung des Selbstleseverfahrens durch den Vorsitzenden. Die meisten Gerichte stellen die im Selbstleseverfahren einzuführenden Urkunden für die Verfahrensbeteiligten -u.U. in Kopie- zusammen und händigen diese an diese aus. Je nach Umfang der so einzuführenden Urkunden wird den Beteiligten eine angemessene Zeit zur Kenntnisnahme einzuräumen sein. Nach Ablauf dieser Zeit wird festgestellt, dass Richter und Schöffen im Inhalt der Urkunden Kenntnis genommen haben und die weiteren Beteiligten Gelegenheit dazu hatten. Verfahrensrechtlich gelten diese Urkunden damit als eingeführt und können bei der Urteilsfindung und -begründung so berücksichtigt werden, als wären sie verlesen worden.

Der Nebenkläger im Selbstleseverfahren

Der Bundesgerichtshof hatte sich in einem Urteil vom 27.03.2024 (2 StR 382/23, hier zitiert nach bundesgerichtshof.de) mit verschiedenen Fragen der Beteiligung des Nebenklägers am Selbstleseverfahren auseinanderzusetzen und es erging die zitierte Entscheidung, die u.a. auch zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen des Bundesgerichtshofes vorgesehen ist.

 

Zunächst stellt der Senat fest, dass die Nebenklage Beteiligte im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO ist (BGH, aaO, Rn. 12f.). "Sie hat das Recht, dass ihr wie allen anderen Verfahrens-beteiligten Gelegenheit gewährt wird, vom Wortlaut der von der Selbstleseanordnung erfassten Urkunden Kenntnis zu nehmen." Es dürfe diesbezüglich kein Unterscheid zwischen Nebenklage und -ggf. verteidigtem- Angeklagten gemacht werden, insbesondere dürfe die Nebenklage nicht darauf ver-wiesen werden, sein Rechtsbeistand verfüge über eine (elektronische) Kopie des betreffenden Dokuments. (BGH, aaO, Rn. 14)

 

Ein Verstoß gegen die ordnungsgemäße Beteiligung der Nebenklage am Selbstleseverfahren könne jedoch nicht vom Anklagten im Wege der Revision gerügt werden. Dazu führt der Senat (aaO, Rn. 16) aus:

 

"Bleibt dies (Anmerkung: die ordnungsgemäße Beteiligung am Selbstleseverfahren) der Nebenklage verwehrt, ist der Rechtskreis des Ange-klagten und seiner Verteidigung insoweit in keiner Weise berührt (zur „Rechtskreistheorie“ schon BGH, Beschluss vom 21. Januar 1958 – GSSt 4/57, BGHSt 11, 213, 214 ff.; Urteil vom 20. Januar 2004 – 1 StR 319/03, juris Rn. 28 mwN). Es obliegt vielmehr allein der Nebenklage, eine Verletzung ihrer Rechte bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens geltend zu machen. Ihre Stellung als Verfahrensbeteiligte im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO gestattet es ihr nicht nur, selbst formlos darauf hinzuweisen, wenn der Durchführung des Selbst-leseverfahrens Schwierigkeiten entgegenstehen (vgl. Löwe/Rosenberg/Mosbacher, StPO, 27. Aufl., § 249 Rn. 73), sie kann – und muss, will sie sich die Geltendmachung in einem unter den Voraussetzungen des § 400 Abs. 1 StPO zulässigen Revisionsverfahren erhalten – bei Beeinträchtigung ihres Beteiligungs- und Informationsrechts das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO anrufen (vgl. Löwe/Rosenberg/Mosbacher, StPO, 27. Aufl., § 249 Rn. 73)."

 

Letztlich sei die Teilnahme der Nebenklage am Selbstleseverfahren disponibel. Eine fehlende Beteilung oder eine nicht ordnungsgemäße Beteiligung stehe einer prozessordnungsgemäßen Einführung der vom Selbstleseverfahren betroffenen Urkunden nicht entgegen (aaO, Rn. 22ff.). Begründet wird dies z.B. damit, dass die Nebenklage nicht zu den in § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO aufgeführten Widerspruchsberechtigten gehört und auch, anders als Staatsanwaltschaft und Angeklagten, keine Anwesenheitspflicht trifft.

Fazit

Die Argumentation des Bundesgerichtshofes vermag zu überzeugen. Für die Praxis gilt, dass auch wenn der Senat, was unvollständige bzw. ungeschickte Protokollierung angeht, beinahe schon gönnerhaft ist, sich die Aufzählung aller Verfahrensbeteiligter in dem gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO aufzunehmenden Protokollvermerk dringend anbietet. Dabei dürfte es sich auch anbieten, einen möglichen Verzicht der Nebenklage (oder z.B. auch des Adhäsionsklägers) auf die Teilnahme am Selbstleseverfahren ausdrücklich zu protokollieren.

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